Die Souveräne Cloud ist eine Ausrede

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23.07.2023
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6 min Lesedauer
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Kurzvorstellung Max Hille

Maximilian Hille ist Head of Consulting bei der Cloudflight AG, einem führenden Full-Service-Provider für industrielle digitale Transformation in Europa. Dort leitet er seit Jahren die Research- und Beratungsaktivitäten zu den Themen Cloud-Architektur, Cloud-Native Technologies, Managed Cloud Services und mehr. Seit über 10 Jahren hat er sich der Verbreitung Cloud-nativer Architekturen und Vorgehensweisen im deutschen Mittelstand verschrieben und gehört zu den Veteranen der europäischen Cloud Native-Bewegung.

Gregor: Du machst Cloud Native seit Deinem 18. Geburtstag. Wie hat sich die Szene seitdem entwickelt?

Max: Da habe ich wohl ein gutes Timing erwischt! Um 2010/11 hieß Cloud Native oft noch Cloud & Innovation Practice. Zu der Zeit war es etwa so, wie in den letzten zwei bis drei Jahren mit KI. Jeder wollte mitreden, davon profitieren. Aber es gab an allen Ecken und Enden ungelöste Baustellen, die dies verhinderten. Daher war Cloud im Allgemeinen (was Public Cloud und später Cloud Native meinte) erst einmal ein Thema für Vorreiter, stark von US-Providern und neuen Dienstleistern getrieben.

Inhaltlich ging es erst mehrheitlich um Kosten, später stärker um das Service-Portfolio. IaaS war eigentlich nur ein kurzes Phänomen. Heute ist die Debatte vor allem die der Interoperabilität und Synergien. Was aber konstant existierte und bis heute Bestand hat, sind Debatten um Datenschutz und die hybriden Clouds aus On-Prem/Private und Public Clouds.

G: Wann und in welchem Kontext bist Du mit dem Thema Souveränität in Berührung gekommen?

M: Das Thema Souveränität als Antwort auf die Datenschutzdebatten und auch die verstärkte Frage nach Cloud Exit-Strategien kam etwa 2017/2018 auf. Als Begriff tatsächlich im Kontext einer Veranstaltung, bei der ein Storage & Data Management-Anbieter damit warb. Mit Gaia-X und den vermehrten regionalen Angeboten wurde Souveränität häufiger gebräuchlich. Mal meinte es die Daten, mal die Provider, mal einzelne Services. Anfangs waren es nicht mal die Angst vor US-Providern per se, sondern die Sorgen Vendor Lock-Ins jeglicher Art.

Zu Beginn ging es bei ‚Souveränität‘ um die Vermeidung von Lock-Ins jeglicher Art – nicht nur bezogen auf US-Angebote.

Erst seitdem Verwaltungen und Datenschutz-Fans zu der Erkenntnis kamen, dass sie Public Clouds nicht ignorieren können, wurde Souveränität zur möglichen Antwort auf internationale und vor allem US-amerikanische Angebote.

G: Wie bewertest Du den aktuellen Trend zum Thema souveräne Cloud?

M: Im Endeffekt sind souveräne Clouds Ausreden für versäumte Chancen in der Vergangenheit. Sie sind die süße Genugtuung für diejenigen, die sich bislang erfolgreich gegen die Nutzung von Public Clouds oder Open-Source Cloud-Native-Services gewehrt haben. Sie sehen sich nun im Recht, dass langes Warten zum Besseren führt.

Souveräne Clouds sind Ausreden für versäumte Chancen der Vergangenheit.

Aber wenn wir uns die Kluft zwischen den heute verfügbaren, souveränen europäischen Angeboten und den etablierten Plattformen und Services ansehen, wird klar: Mit souveränen Angeboten schaffe ich nicht annähernd die gleichen Möglichkeiten. Und damit stellt sich wieder die Frage. Will ich das meiste herausholen und habe Use Cases für vernetzte, automatisierte und elastische Infrastrukturen oder finde ich doch wieder eine Ausrede, mich vor dem Veränderungs-Stress der Digitalisierung zu drücken.

Unternehmen, die Clouds konsequent ‚souverän‘ nutzen, werden kaum mit den führenden, digitalisierten Unternehmen mithalten können.
Maximilian Hille

Vermutlich gibt es kaum eine Branche, wo Unternehmen, die Cloud auf Sparflamme oder konsequent souverän nutzen, mit den führenden, digitalisierten Unternehmen mithalten können. Die Unternehmen bleiben also im Dilemma: Öffnen sie ihre Anwendungslandschaft für mindestens einzelne Services oder verzichten sie auf Leistungsfähigkeit. Und jetzt kommen Politik und Verwaltung auf die Idee, Souveränität für alle zu fordern. Sie suggerieren, dass die souveränen Angebote dem Vorsprung von 15 Jahren Entwicklung, Erfolg und Adoption in nichts nachstehen.

G: Wovor möchten sich Politik und Verwaltung denn drücken?

M: In erster Linie ist es eine Risikovermeidungsstrategie. Eine sehr konsequente. Das müssen Andere bewerten, inwieweit dies wirklich nötig ist. Letztlich geht es aber darum, den Fall auszuschließen, bei dem unkontrolliert relevante Daten in falsche Hände geraten. Politik und Verwaltung können dann sagen: "Wir haben es ja immer gesagt." Diese Bevormundungspolitik halte ich für falsch.

Der Hinweis auf diese Extremsituation umgeht aber vor allem den konsequenten und notwendigen Wandel. Es ist sicher positiv, dass in öffentlichen Ausschreibungen vermehrt Begriffe wie Cloud, Cloud-Native oder Namen der Hyperscaler auftauchen. Bis es aber dazu kommt, dass aus diesen ersten Gehversuchen funktionierende Software-Services mit guter User Experience für die Bürger werden, hat schon die übernächste digitale Epoche begonnen. Die Hyperscaler sind heute schon bei generativer AI, demnächst kommen Krypto oder Quantum, und deutsche Behörden hängen noch bei den Themen Cloud Native und Software.

Die Hyperscaler sind schon bei AI, demnächst kommen Krypto oder Quantum. Deutschland aber scheitert noch an den Basics von Cloud Native.
Maximilian Hille

Politik und Verwaltung versuchen nicht, Fakten und Innovationen zu akzeptieren, zu honorieren und mit ihnen zu arbeiten. Wichtiger als das Mäandern zwischen den Buzzwords der Souveränität wäre der interne Wandel zu mehr User-Centricity, Produkt-Denke, moderner Software-Architektur und DevOps.

G:  Was tut denn daran so weh?

M: Dass mehr digitale Leistungsfähigkeit jetzt schon möglich wäre.

Hätten öffentliche Organisationen die letzten 8 Jahre nicht mit ideologischen Diskussionen verbracht, sondern Zeit und Geld in eine echte Suche nach Lösungen investiert, dann stünden wir nun ganz anders da. Im Dialog mit den Hyperscalern und unter Verwendung von viel Open Source wären deutlich mehr Innovationen und Souveränität entstanden. Selbst kleine Unternehmen aus Deutschland, bspw. im Finanzsektor unter BaFin-Regulierung, haben es geschafft, Azure Standard-Verträge nachhaltig zu ändern. Was hätte ein deutscher Verwaltungsapparat, der hochattraktiv für IT-Unternehmen als Kunde ist, wohl für einen Hebel?

G: Du meinst also, die deutsche Bürokratie könnte digitalisieren, ohne auf die souveräne Cloud zu warten? Wie sähe das aus?

M: Das wäre allemal möglich. Es geht in der Digitalisierung vor allem darum, durchgängig den Verwaltungsprozess in Software abzubilden. Dafür sind Public Clouds gemacht. Software-Entwicklung dort ist schneller, effizienter und erlaubt den Fokus auf das Nutzerproblem. Ich bin überzeugt, dass mit lokaler Datenhaltung auf performanten Systemen und Verschlüsselung in der Public Cloud kein wirkliches Problem entstünde, das nicht durch menschliche Logik und Technologie gelöst werden könnte. Aktuell sind es Dogmen und eindimensionale Regulierung, die hier bremsen.

G: Kennst Du Beispiele, in denen Digitalisierung ohne US-Komponenten gelungen ist?

M: Natürlich, zu hauf. In Österreich gibt es zahlreiche Beispiele in der Verwaltung, ob in Justiz, Bau oder im Sozialversicherungsumfeld. Hier wurde einfach gemacht. Die Frage ist, wie am Ende Erfolg bewertet wird. Aus meiner Sicht sollte dieser gemessen werden an der tatsächlichen Lösung des Bürgerproblems. Wäre dasselbe auch in der Public Cloud geglückt? Mit großer Wahrscheinlichkeit, ja. Vielleicht sogar effizienter und schneller.

In Deutschland lassen Größe, Komplexität und Regulierung diesen Pragmatismus meist nicht zu. Die US-Clouds würden also das deutsche Digitalisierungsproblem nicht lösen, aber es den Akteuren weitaus leichter machen.

G: Was würdest Du also Politik und Verwaltung empfehlen?

M: Als Bürger und Wähler tut es mir fast leid, wie die Politik gefangen ist in ihrem eigenen Korsett aus medialem Kampfgeschrei und immerwährendem, föderalen Wahlkampf. Frei von jeglicher politischer Realität würde ich es mir also wünschen, wenn wir die Digitalisierung Deutschlands entpolitisieren könnten. Das ginge etwa durch synchronisierte Legislaturperioden in den Ländern und würde zu weniger Phasen des Stillstands gepaart mit mehr Kontinuität in der Sache führen.

Die Behörden sollten sich mehr trauen, mit den Best Practices der Digitalisierung zu experimentieren.
Maximilian Hille

Machbarer erscheint mir mein zweiter Wunsch: Die Behörden sollten sich mehr trauen, mit den Best Practices der Digitalisierung zu experimentieren. Am Ende werden sie ja zu Organisationen, die Software-Produkte erstellen und betreiben. Genau hier haben sich in den letzten 20 Jahren objektiv vorteilhafte Vorgehensweisen herausgebildet: Nutzerzentriertes Denken, Produktorientierung, Agile, verteilte Architekturen und Automatisierung des Software-Deployments. Alles das wäre möglich, auch unter strengsten Auslegungen der GDPR und in der Private Cloud.

Lediglich Umdenken wäre dafür notwendig.

Erfolgreiche Digitalisierung wäre auch in der Private Cloud möglich. Lediglich Umdenken wäre dafür notwendig.
Maximilian Hille

Max, vielen Dank für das Interview!

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