Kann die KI unsere Verwaltung digitalisieren?

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02.04.2024
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9 min Lesedauer
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Die deutsche Verwaltung hat die Digitalisierung verschlafen. Dem Finanzminister etwa fehlen Infrastruktur und Fachverfahren, um Bürgern nicht nur Geld einzuziehen, sondern ihnen auch etwas zu überweisen. Kreisverwaltungen, Schulen und Krankenhäuser haben ihre IT-Sicherheit nicht im Griff, täglich werden neue Cyberattacken dazu bekannt. Die Entwicklung neuer Fachverfahren dauert lange, sind sie einmal live, hapert es an Skalierbarkeit und schneller Weiterentwicklung.

Dem öffentlichen Dienst ist der Sprung von der IT der 1990er in die Zeit von Cloud & Mobile nicht gelungen. Bevor die letzte Technologiewelle bewältigt wurde, steht die nächste schon vor der Tür: Künstliche Intelligenz.

cloudahead Keyan

Zur Person

Dr. Keyan Ghazi-Zahedi ist Informatiker mit einem langjährigem Schwerpunkt auf künstlicher Intelligenz. Nach Stationen beim Fraunhofer IAIS und am Max-Planck-Institut ist der Principal Specialist seit 2019 bei der PD GmbH tätig. Nebenbei ist er externes Mitglied am Center on Narrative, Disinformation and Strategic Influence der Arizona State University und veröffentlicht regelmäßig in Fachzeitschriften zu KI und Desinformation.

Gregor: Was sind aus deiner Sicht die Probleme der deutschen Verwaltungs-Digitalisierung?

Keyan: Aus meiner Sicht gibt es vor allem drei Kernprobleme.

Zum einen gibt es, teilweise aufgrund unserer föderalen Strukturen, keine einheitlichen Standards zum Informationsaustausch zwischen den Beteiligten. Die deutsche Verwaltung müsste sich zwar nicht auf einzelne Softwares bestimmter Anbieter einigen, aber standardisierte Austauschformate zwischen Softwares unterschiedlicher Anbieter wären dringend notwendig. Wir als Privatpersonen können uns gegenseitig ja auch Emails senden, ohne dass wir alle Google Mail nutzen.

Das zweite Problem ist: Unser Denken ist zu klein-klein. Das klingt jetzt härter als ich es meine, daher folgendes Beispiel dazu: Wenn wir digitalisieren, dann stellen wir den papierbasierten Antrag allzu oft einfach auf ein PDF um. Dieses ist dann zwar ausfüllbar, die Abläufe dahinter bleiben aber meist unverändert. Durch die entstehenden Medienbrüche wird der Gesamtprozess dann oft sogar komplizierter und fehleranfälliger. Wir müssen also die Digitalisierung als Chance sehen den gesamten Prozess, mit den BürgerInnen im Mittelpunkt, neu zu denken.

Als drittes sehe ich unseren Mangel an ambitionierten und messbaren Zielen. Auf diese Weise erreichen wir weniger, als wir eigentlich könnten und wenn wir etwas erreichen, merken wir es häufig gar nicht.

"Unser Denken ist zu klein-klein."

Gregor: Du hast Dir intensiv die Konzepte und Implementierungen anderer Länder angeschaut. Wer und was hat Dich besonders beeindruckt?

Keyan: Meistens wird Estland hier als Vorbild genannt. Das stimmt auch, daher möchte ich einmal andere Länder hervorheben. Dänemark zum Beispiel hat mich nachhaltig beeindruckt. Das Land hat 2018 eine Digitalstrategie veröffentlicht, auf Dänisch und auf Englisch. Als messbare Referenz steht darin beispielsweise: „Wir streben in 3 Jahren Platz 3 im OECD Digitalisierungs-Ranking an.". Dänemark ging dabei schrittweise vor. Zuerst waren die unternehmensbezogenen Prozesse dran, dann ging es um die Verwaltungskontakte mit den BürgerInnen.

Finnland ist ebenfalls ein gutes Vorbild. Dort gibt es eine einzige, digitale Anlaufstelle für alle Behördengänge. Als ich sie das erste Mal sah, war ich wirklich schockdeprimiert, weil man dort wirklich alle Behördengänge online erledigen kann. Unglaublich viele Leistungen können die Finnen Online erledigen: Von der Firmengründung bis zur Beantragung von Urkunden oder dem Wechsel des Arbeitsplatzes.

Aber auch Österreich ist deutlich weiter als wir. Die App „Digitales Amt“ ist zwar nicht so umfassend, wie jene in Finnland, aber bildet trotzdem sehr viele Verwaltungskontakte auf dem Handy ab. Das ist eigentlich das, was wirals Bürger heute erwarten.

"Ziel ist es, die vielfältigen Aufgaben des Staates in der Zukunft überhaupt noch abdecken zu können."

Gregor: Welche Vision hast du daraus für die Behörde der Zukunft in Deutschland entwickelt?

Keyan: Ich wünsche mir eine vollautomatisierte, anlassbezogene, serviceorientierte und antragsfreie Verwaltung.

Vollautomatisiert bedeutet für mich, dass alle Prozessschritte, die automatisiert werden können, auch automatisiert werden müssen. Ziel ist es übrigens nicht, Personen in der Verwaltung durch Maschinen zu ersetzen. Es geht darum die vielfältigen Aufgaben des Staates trotz der Verrentungswelle der nächsten 10-20 Jahre noch abdecken zu können.

Ich stelle mir hier eine Person vor, die in einem schönen Büro an einem Laptop sitzt und von Dashboards und KI-Assistenten die lästigen, wiederkehrenden Aufgaben abgenommen bekommt. Diese Person kann sich dann um die neuen, spannenden Aufgaben kümmern.

Gregor: Und was bedeuten Anlassbezogen, Serviceorientiert und Antragsfrei?

Keyan: Das erkläre ich am besten am Fall der Ukraine-Geflüchteten in Brandenburg. Familien mit Kindern etwa haben Anrecht auf Zuschüsse für Freizeitaktivitäten. Nur genau diese NutzerInnen-Gruppe hat Schwierigkeiten sich in der Vielfalt der Webseiten und Anträge zurechtzufinden. Gelänge es uns als Verwaltung genauso serviceorientiert wie Amazon, Zalando und co. zu agieren, dann würden wir ihnen eine E-Mail schicken mit einem Link zu Standard-Angeboten von regionalen Bauernhöfen. Die Abrechnung des Zuschusses wäre dann ebenfalls automatisiert.

Ein anderes Beispiel kenne ich aus Österreich. Eltern müssen dort beim Geburtsmeldedienst kein Elterngeld beantragten. Sie erhalten es anlassbasiert, die Höhe wird automatisch anhand der Einkommensteuererklärung berechnet.

Antragsfrei könnten zudem sofort die Voranmeldungen in Kita und Schule erfolgen, denn alle notwendigen Informationen hierfür sind mit dem Zeitpunkt der Geburt bekannt.

Gregor: Eigentlich klingt die Vision offensichtlich. In den letzten 20 Jahren Digitalisierung hat sich diesbezüglich nur nicht viel getan. Was macht Dich optimistisch, dass wir in den nächsten 20 Jahren mehr Fortschritte machen?

Keyan: 20 Jahre sind eine wirklich lange Zeitspanne. In einigen Branchen hat sich in dieser Zeit die komplette Transformation zum reinen E-Commerce vollzogen.

Wenn ich mir den aktuellen technologischen Fortschritt anschaue, glaube ich, dass sich der öffentliche Dienst auch schon in 5 Jahren deutlich verändern könnte. Insbesondere wenn ich mir anschaue, wie sich die KI-Modelle im letzten Jahr verbessert haben, bin ich sehr optimistisch.

"Wenn die KI Steuerlogik dichten kann, dann kann sie die auch coden."

Gregor: Das muss du erklären. Du willst die Digitalisierung der Verwaltung der KI überlassen?

Keyan: Insbesondere die Sprachmodelle haben sich deutlich verbessert. Mit dem Übergang von GPT-3.5 auf GPT-4 zum Beispiel hat sich das Verständnis für Verwaltungs-Texte und -Prozesse deutlich erhöht. Du musst bedenken: In der Verwaltung ist praktisch alles textbasiert. Gesetze, Erlasse, Verwaltungsanweisungen und selbst Interviews mit VerwaltungsexpertInnen kannst du in Texte umwandeln. Wir haben jetzt Methoden, von denen ich dachte, dass diese erst in 5-10 Jahren möglich sind.

Meine These ist also: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Gregor: Für mich klingt das sehr gewagt. ChatGPT kann Limericks, aber glaubst du ernsthaft, das hilft beim Elterngeldprozess?

Keyan: Als ich GPT3.5 zum ersten Mal ausprobiert habe, fand ich das schon sehr beeindruckend. Nur war mir klar: Das Textverständnis reicht nicht aus für komplexe Prozesse. Dann habe ich im März letzten Jahres eine Live-Präsentation gesehen, in der GPT4 die Logik einer steuerlichen Rückerstattung erläutert hat. Dann meinte der Moderator: „Jetzt mache das bitte als Gedicht.“ Dann dachte ich: Wenn GPT4 die Logik dichten kann, dann kann es die auch programmieren.

Zwei Tage später bin ich hingegangen und habe versucht das Beispiel aus dem Live-Event mit der Pendlerpauschale nachzubauen. Die Logik ist relativ einfach: Es gibt eine Pauschale je Kilometer, eine Höchstgrenze sowie noch einige Pauschalen für öffentliche Verkehrsmittel. Dann habe ich GPT4 gebeten daraus Python-Code zu erzeugen. Das Modell hatte dann sogar die Variante „wenn Flug / wenn nicht Flug“ mit abgedeckt, die ich selbst übersehen hatte.

Als nächstes dachte ich: “Wenn GPT4 das kann, dann kann es auch Prozesse modellieren“. Also habe ich dem Modell die Aufgabe gegeben den Prozess zur Beantragung eines Reisepasses zu recherchieren, modellieren und darzustellen. In der vereinfachten grafischen Variante hat dies gut funktioniert. Mit einigen Zwischenschritten gelange es mir sogar mit GPT4 eine erweiterte Geschäftsprozess-Darstellung nach BPMM zu erzeugen.

Die KI, nach heutigem Stand der Entwicklung, versteht also parallele und sequenzielle Arbeitsschritte. Da diese BPMM-Diagramme nichts anderes als Programm-Code sind, könnten fokussierte Text-To-Code-Modelle sogar noch besser funktionieren, als ein generisches Modell wie GPT4.

Genau diese Hypothesen überprüfen wir jetzt in unserem KI-Skill-Hub bei der PD. Können wir etwa mit reinem Prompt Engineering schon gute Prozessbeschreibungen erzeugen? Wie weit kommen wir mit Fine-Tuning? Welche Modelle sind die besten? Wir sind auch im Austausch mit anderen Wissenschaftlern, die an diesen Themen schon forschen.

"Wenn wir genügend Use Cases und Daten haben, dann werden wir das hinbekommen."

Gregor: Du sprichst von Hypothesen und redest mitunter im Konjunktiv. Was muss passieren, damit du mehr im Indikativ sprichst?

Keyan: Das ist eine Wissenschaftler-Krankheit. Bezogen auf die Technologie bin ich, wie gesagt, sehr optimistisch. Wenn wir genügend Use Cases und Daten haben, dann werden wir das mit den passenden Modellen und etwas Fine-Tuning hinbekommen. Für eine Voll-Automatisierung der Verwaltung aber benötigt es mehr. Insbesondere müssen wir zwei nicht-technologische Herausforderungen lösen.

Zum einen benötigt es mehr verwaltungs-internes Vertrauen. Was meine ich damit? Beim Einbürgerungs-Prozess etwa benötigt das Ausländeramt die Einkommensteuererklärung. Diese aber liegt beim Finanzamt und kann nicht automatisiert angefragt und übertragen werden. Heutzutage werden also häufig Anträge manuell versandt und doppelt geprüft.

Zum anderen benötigen wir eine ganzheitliche Prozess-Sicht über alle Beteiligten hinweg. Den Behörden fehlt es an Transparenz dazu, wie ein Prozess tatsächlich funktioniert. Viel Wissen dazu ist in den Köpfen der BeamtInnen gespeichert und nicht in einem Prozessmodell dokumentiert. Vor dem Hintergrund der auf uns zukommenden Verrentungswelle wird das zu einem gefährlichen “Verwaltungsvergessen“ führen. Hier könnte die KI ebenfalls helfen das implizite Wissen der Verwaltung aus bestehen Daten zu extrahieren und zu dokumentieren.

Um die Vision der “Behörde der Zukunft“ wahr werden zu lassen, müssen wir also an drei Stellschrauben gleichzeitig drehen: Technische Prozessdigitalisierung, verwaltungsinternes Vertrauen und ganzheitliche Prozess-Sicht.

"Ohne mehr Behördenvertrauen und ganzheitliches Prozessdenken wird uns die 'Behörde der Zukunft' nicht gelingen."

Gregor: Spannend. Das klingt zumindest theoretisch machbar. Was hast du jetzt vor oder wie geht es weiter?

Keyan: Als erstes möchten wir eine echte Demo bauen, welche die Idee greifbar macht. Mit echten Eingabe- und Ausgabedaten werden wir zeigen, dass wir aus bestehenden Texten ein Prozessdiagramm erzeugen können. Aus dieser soll dann Python-Code erzeugt werden. Hier geht es nicht um Perfektion, sondern um den grundsätzlichen Nachweis der Machbarkeit.

Mit diesem Prototypen möchten wir Mitmacher aus der Verwaltung finden. Mit deren Use Cases und Daten geht es dann darum den Prototypen zu verbessern und echte Wirkung in der Praxis zu entfalten.

Parallel muss es uns auch gelingen, ein besseres Bewusstsein für die nicht-technologischen Herausforderungen zu schaffen. Ohne mehr Behördenvertrauen und ganzheitliches Prozessdenken wird uns die „Behörde der Zukunft“ nicht gelingen.

Gregor: Das Thema KI ist in aller Munde, ebenso die Debatte um unseren Rückstand in der Verwaltungsdigitalisierung. Gibt es Möglichkeiten für Dritte euch zu unterstützen?

Keyan: Ja, da gibt es viele Möglichkeiten. Zum einen freue ich mich über jeden, der sich für die Idee begeistert und sie promoted. Je mehr Mitmachende wir im öffentlichen Dienst finden, desto besser.

Außerdem haben zusammen mit cloud ahead eine Landing Page für das Projekt erstellt. Menschen, die Interesse haben mitzuwirken, können sich dort eintragen. Die Themen sind vielfältig: Use Cases mitbringen, Prozessbeschreibungen sammeln, technisches Sparring, Prompting verbessern, Modelle trainieren, und vieles mehr.

Gregor: Vielen Dank für das Gespräch!

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