Welches Problem löst Gaia-X?

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20.05.2023
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6 min Lesedauer
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Gaia-X ist gewachsen

Gaia-X ist als Idee zweier Wirtschaftsminister gestartet und hat sich binnen 3 Jahren zu einer großen, gesamteuropäischen Geschäftsinitiative entwickelt. Mit Prototypen, MVPs, großen Konferenzen und Hackathons. Es gibt 16 Gaia-X-Hubs in der EU und sechs in der übrigen Welt. Auch viele Datenrauminitiativen gibt es, für die Autoindustrie, für Industrie 4.0, für Energie und Mobilität. In der deutschen Digitalstrategie steht sogar einer für Kunst und Kultur. Achja: Datenräume gibt es auch as-a-service. Und im web3-Ökosystems ist Gaia-X ebenfalls dabei. Aber versteht wirklich jemand, wie Europa dadurch materiell an digitaler Souveränität gewinnen soll?

Was war Gaia-X eigentlich noch einmal?

In feinstem Business Sprech heisst es auf der Selbstbeschreibung der Initiative auf Youtube: „Gaia-X ist ein neues, faires, sich ständig weiterentwickelndes und offenes Dateninfrastrukturökosystem das Innovation durch Datenzugänglichkeit und souveränen Datenaustausch auf der Grundlage von Vertrauen zwischen allen Beteiligen Akteuren fördert. “ Wikipedia wiederum spricht etwas kürzer von einem „Projekt zum Aufbau einer leistungs- und wettbewerbsfähigen, sicheren und vertrauenswürdigen Dateninfrastruktur für Europa."

Welche Probleme soll Gaia-X lösen?

Die klarsten Punkte des Wertversprechens von Gaia-X sind: Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit, Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit. Es ist also zu vermuten, dass die Abwesenheit dieser Charakteristika das Problem ist, das Gaia-X lösen möchte. Und in der Tat, Europa hat hier Probleme:

  • Fehlende Leistungsfähigkeit: Die Public Clouds amerikanischen Ursprungs sind technisch deutlich leistungsfähiger als jene Clouds europäischen Ursprungs. Die großen amerikanischen Hyperscaler AWS, Azure und GCP bieten etwa 1500 Cloud Services in sehr vielen Regionen, europäische Provider dagegen deutlich weniger Services in deutlich weniger Regionen.
  • Fehlende Wettbewerbsfähigkeit: In den Public Clouds gibt es viele Services mit attraktiven Einstiegsangeboten (Freemium, Gratismonate, Einstiegsbudgets). Zudem gibt es bequeme Bundles (Workplace + Security + Identity) und eine Heerschar kleiner und großer Beratungs- und Implementierungspartner. Kein mir bekannter europäischer Dienstleister kann hier in Portfoliobreite und -Attraktivität mithalten.
  • Sicherheit: Laut Bitkom gibt es in Deutschland etwa 50.000 Private Clouds, davon etwa 95% in kleinen Rechenzentren und Serverschränken. Dass diese nicht immer auf dem höchsten Stand der Sicherheit betrieben werden, lassen die täglichen Meldungen über Hacks in Kreisverwaltungen und Schulen annehmen.

Europäische Clouds sind also zu klein, zu wenig attraktiv und im Durchschnitt nicht sehr sicher. Aber den amerikanischen Clouds fehlt offensichtlich etwas entscheidendes:

  • Vertrauenswürdigkeit: Die Public Clouds erscheinen den Urhebern von Gaia-X nicht vertrauenswürdig genug. Ich habe hier Max Schrems im Ohr: Die Nutzung von Rechenzentren der Public Cloud, auch wenn sie in Europa stünden, sei gleichzusetzen mit einer Datenübertragung in die USA. Und dort werde dank übler Überwachungsgesetze praktisch alles mit der NSA geteilt.

Gaia-X ist also angetreten, um für Europa eine Cloud zu schaffen, welche Leistungsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit der Public Cloud kombiniert mit dem 100%igen Vertrauen, dass die Daten unter keinen Umständen mit amerikanischen Behörden geteilt werden. Sobald also Gaia-X den IT-Markt erobert, können Europäer ihre digitale Zurückhaltung aufgeben, Daten endlich souverän teilen und zum Wohle aller neue Werte schaffen.  

Löst nun Gaia-X diese Probleme?

Irgendwie ja. Lauscht man den Präsentationen der Gaia-X-Experten rund um Francesco Bonfiglio, dann entsteht in der Tat der Eindruck professioneller und kompetenter Umtriebigkeit. Neben Slides werden viele Einblicke in den echten Entwicklungsstand gegeben („This is not just slideware“). Es geht um Nodes, Digital Clearing Houses, Service Catalogues, Claims, Trust Anchors, Rubber Stamps, Personal Verifiable Credentials, Compliance Services, Registries, Labels und vieles mehr.

Ich habe lange nach einer einfach verständlichen Metapher für dieses wunderbar europäische Projekt gesucht. Ich glaube, ich habe ein ausreichend korrektes Bild gefunden, welches das Werk der KollegInnen beschreibt: Sie kreieren ein Konstrukt, mit denen die Erbauer einer Uhr jedes Zahnrad dieser Uhr gegen das Zahnrad eines anderen Herstellers austauschen können.

Gaia-X kreiert ein Konstrukt, bei dem jeder Erbauer einer Uhr alle Zahnräder durch jene eines anderen Herstellers austauschen kann.

Um sicherzustellen, dass diese Uhr dann weiterhin funktioniert, benötigt das Konstrukt genau jene Mechanismen, die Gaia-X gerade aufwendig entwickelt: Selbst-zertifizierte Bauteile, gesicherte Identitäten jedes Bauteillieferanten und große Bauteilkataloge. Und da es nicht um Uhren und Zahnräder geht, sondern um jegliche Bauteile jeglicher denkbarer Software, müssen die KollegInnen ein komplexes Metamodell aufbauen und die Gaia-X-Maschine auf viele „Föderationsprobleme“ vorbereiten.

Durch eine solche föderierte Meta-Cloud könnte nun jedes Unternehmen genau jene IT konfigurieren, die es möchte. Wünscht es mehr Unabhängigkeit von den USA? Dann nimmt es eben nur Bauteile, welche entsprechend zertifiziert sind.

Gaia-X löst Probleme, die schon gelöst sind

Niemand der ernsthaft Uhren baut und vertreibt benötigt eine Plattform, in der jederzeit jedes Bauteil jeder Uhr von jedem ausgetauscht werden kann. Was Uhrenhersteller benötigen, um auch in Krisen sicher Uhren herstellen zu können, ist Uhrenkompetenz und die Kontrolle über die Uhren-Wertschöpfungskette. An kritischen Stellen benötigt er zudem eigene Herstellungskapazitäten, alternative Dienstleister und ausreichende Lagerhaltung.

Auf die IT übertragen bedeutet dies: Wenn europäischen Organisationen die amerikanischen Hyperscaler nicht als vertrauenswürdig und sicher empfinden, dann benötigen sie

  • mehr eigene IT-Kompetenz (z.B. Software-Experten in der Unternehmensführung)
  • Kontrolle über die IT-Wertschöpfung (z.B. Eigenfertigung oder Open Source)
  • Management alternativer IT-Anbieter (z.B. Multi-Cloud)

Für alles das gibt es schon heute Lösungen und erfolgreiche Anwendungsbeispiele. In Summe sind diese Lösungen sicher etwas aufwändiger und weniger bequem als die Public Cloud, aber im Vergleich zu einer föderierten Metacloud mit einer Vielzahl zu synchronisierender Komponenten und verteilter Betreiber erscheinen die „normalen“ Lösungen als organisatorisches und technisches Kinderspiel.

Gaia-X versucht also, die Probleme der europäischen IT auf eine technisch-organisatorisch maximal komplizierte Art und Weise zu lösen. Der Vorteil dabei: Weder Staat noch Industrie müssen Haltung und Organisation verändern, niemand muss ernsthaft investieren. Alle können verbleiben in dem Glauben, dass es irgendwie bequem weitergeht.

Gaia-X versucht die Probleme der europäischen IT auf eine maximal komplizierte Art und Weise zu lösen.

Was würde wirklich helfen?

Für Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit fehlt es europäischen Cloud-Providern insbesondere an Größe und wirtschaftlicher Macht. Diese aber erlangen sie nicht, da es ihnen an Wettbewerbsfähigkeit fehlt. Der Staat könnte dieses Henne-Ei-Problem lösen und IONOS und StackIT so lange mit Aufträgen unterstützen, bis es diesen gelingt, mit den Hyperscalern mitzuhalten.

Oder die Regierung könnte mit Geld und Druck (vgl. Klimaschutzverträge) deutsche Großkonzerne wie Allianz, Bosch oder VW dazu bringen, ihre riesigen Rechenzentren und IT-Landschaften für Dritte zu öffnen. Vorbild? Amazon und AWS. Sicher auch kein Kinderspiel für niemanden, aber zumindest bestünde dann die Chance, dass marktwirtschaftliche Erfolgsmechanismen über kurz oder lang Einzug in "föderierte Meta-Cloud-Initiativen" erhielten.

In beiden Fällen aber müssten Staat und Industrie ihre Haltung zur IT sowie Prozesse und Organisation verändern, beteiligte Führungskräfte bräuchten massiv IT-Kompetenz. Und alle müssten investieren in nennenswerter Höhe. Die technisch-organisatorischen Konzepte der aufzubauenden Clouds hingegen wären, im Vergleich zur förderierten Meta-Cloud, trivial: In Rechenzentren investieren, Open Source-Software (oder eigene europäische) nutzen und ausbauen, Vertrieb aufbauen, Kunden gewinnen, verlustträchtige Durstphasen durchstehen.

Das Problem mit Gaia-X: Ginge es wirklich um eine europäische Cloud, bedürfte es mehr IT-Kompetenz in der Führung, Änderung von Organisation und Prozessen sowie echte Investitionen.“

Zur Ehrenrettung von Gaia-X sei noch vermerkt, dass immerhin die Relevanz des Themas Cloud für den Wirtschaftsstandort Europa nicht ganz in Vergessenheit gerät. Und wenn am Ende des Tages nur einer der avisierten Datenräume wirklich funktioniert, dann hat sich das Ganze vielleicht dennoch gelohnt.

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