Europa und die US-Digitalsteuer

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13.02.2023
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6 min Lesedauer
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Verbeugung vor Amerika

Ein werter Kollege hat mir kürzlich Feedback zu unserem Blog gegeben: Der Blog spräche sich sehr für die Public Cloud aus. Getroffen vom Vorwurf der Parteinahme las ich unsere Beiträge zur Sicherheit, zu VMware und zum Basiswissen noch einmal mit frischem Auge. Und ja: Die Artikel besprechen die Public Cloud überwiegend positiv. Sie sei leistungsfähiger als Private Clouds, insbesondere in den Bereichen Servicebreite, Skalierbarkeit, Zugänglichkeit und Einfachheit der Nutzung. Und sie sei vermutlich sicherer als die etwa 47.000 deutschen Serverschränke.

In der Tat komme ich nach eingehender Analyse des Cloud-Marktes Stand heute zu diesen Ergebnissen. Doch sie dürften wenig überraschen.  Jeder der drei großen amerikanischen Anbieter investiert jährlich einen Milliardenbetrag in seine Public Cloud. Und diese Investitionen gehen ja nicht nur ins Marketing.

Die Investitionen von Google, AWS und Microsoft gehen ja nicht nur ins Marketing.

Wer hunderte von Rechenzentren weltweit baut, ist halt besser skalierbar. Wer in eigene Virtualisierungstechnologie investiert (Microsoft, Google und AWS) und damit die eigene Software-Wertschöpfung kontrolliert, der kann mit schnelleren Updates auch die Cybersicherheit erhöhen. Wer Kubernetes erfindet und sich 50 Experten nur für dessen Betrieb und Weiterentwicklung leistet (Google), dessen Container-Service wird einem von Teilzeit-Admins überlegen sein. Wer die Kraft der APIs früh erkennt und sich entsprechend radikal aufstellt (AWS), mit dessen Cloud-Services lässt es sich auch einfacher digitalisieren.

Hemmungslose Innovation vs. sozialer Ausgleich

Nun kommen die drei leistungsfähigsten Clouds der Welt alle aus den USA. Sie sind das Produkt amerikanischer Innovationskultur, das Ergebnis des hemmungslosen Strebens nach Neuem, der Unternehmer als kreativer Zerstörer des Alten. Der gleiche Geist hat uns viele neue Dinge beschwert. Popmusik zum Beispiel, oder Coca-Cola, McDonalds, Kreditkarten und Social Media.

Und Europa? Wir diskutieren, wägen ab. Ist Popularmusik der Untergang von 1000 Jahren musikalischer Hochkultur? Verlieren unsere Kinder wegen Coca-Cola und McDonalds die Lust auf Basilikum und Bärlauch? Führen Kreditkarten zu sinnlosem Konsum? Spaltet Social Media unsere Gesellschaft oder bringt es Menschen zusammen? Europa debattiert. Wir suchen den Ausgleich zwischen Arm und Reich, zwischen Alt und Neu, zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen Analog und Digital, zwischen Datenschutz und Datennutzung. Wir möchten Gegensätze vereinen durch wohlüberlegtes Handeln, nicht Fortschritt sofort und um jeden Preis.

Europa zahlt eine US-Digitalsteuer

Nun aber ist die Welt auf exponentiellem Pfad. Dauerte es noch ~350 Jahre von der Erfindung des Buchdrucks bis zur Dampfmaschine, so waren es nur ~70 Jahre von der Glühbirne bis zum Telefon. Vom Internet zur Cloud waren es vielleicht 20 Jahre, und jetzt kommt es Schlag auf Schlag: Generative AI, Blockchain, Quanten-Computing, Fusionsenergie, und was folgt noch?

Da wird das europäische „Eile mit Weile“ vom amerikanischen Tycoonismus überrant.  Amazon disruptiert den Einzelhandel, Google die Medienbranche. Meta polarisiert die Gesellschaft, statt sie zu zusammenzubringen. Google, AWS und Microsoft bedrohen die klassischen Rechenzentren und werben mit astronomischen Gehältern deren beste Leute ab.

Die Dominanz amerikanischer Digitaltechnologie führt faktisch zu einer weltweiten US-Digitalsteuer.

Das Ergebnis: Die Dominanz amerikanischer Digitaltechnologie führt faktisch zu einer weltweiten US-Digitalsteuer. Ein hoher Prozentsatz jedes digital bewegten Euros wird an US-amerikanische Firmen abgeführt. In der Private Cloud über den Umweg der genutzten Basistechnologien von HPE, VMware, Oracle oder Cisco, in der Public Cloud direkt über Google, AWS und Microsoft. In Marketing und Sales über Meta und Google.

Würden wir damit nur die Moonshots von Jeff Bezos oder Larry Ellison finanzieren, könnten wir darüber lachen. Aber Europa finanziert damit den Vorsprung Amerikas in der nächsten und übernächsten Technologie. Ein Beispiel? Microsoft investiert und profitiert von ChatGPT, Google hält vergleichbares (Sparrow) nur zurück, um das alte Geschäftsmodell zu sichern. Und wer wird wohl das Rennen um Quanten-Computing gewinnen? Microsoft, Google oder IBM?

Europa läuft den Amerikanern nicht nur hinterher, es läuft auch langsamer – und finanziert das US-Trainingslager.

Europa läuft den Amerikanern nicht nur hinterher, es läuft auch langsamer - und finanziert das US-Trainingslager.

Und jetzt? Immer die gleichen Antworten

„Unsere Private Cloud ist doch auch super“: Ja, auch deutsche Rechenzentren können Bafög-Antrags-Anwendungen hosten, aber wer Erfahrung mit Digitalisierungs-Projekten hat, weiß: Portfolio-Breite, Ease-of-Use und Automatisierungsgrad der US-Clouds sind unschlagbar. 

„Dann machen wir eben Hybrid oder Multi-Cloud“: Sicher, das ist etwas komplizierter, aber funktioniert. Nur schützt es nicht vor der US-Digitalsteuer, denn die wird dann nur auf VMware und AWS verteilt.

„Die Public Cloud ist doch viel teurer“: In der Tat ist sie das, praktisch jedes Unternehmen zahlt nach einer erfolgreichen Public-Cloud-Transformation mehr für IT als früher. Aber auch die deutsche Durchschnittsfamilie aus 2023 zahlt deutlich mehr für Telekommunikation als jene aus 2003 – aber möchten wir ernsthaft deswegen auf Komfort und Leistungsfähigkeit unserer Smartphones verzichten?

„Die Daten sind doch in der Public Cloud nicht sicher“: Ja, auf US-Clouds kann man sich nur in begrenztem Maße durch Verschlüsselung vor dem CLOUD-Act schützen. Aber dass die deutschen Daten in den 47.000 deutschen Serverschränken tatsächlich besser vor den USA und dem Rest der Welt geschützt sind, glaubt nur, wer sich nicht ernsthaft mit Cybersicherheit auseinandergesetzt hat.

„Wir brauchen halt mehr Open Source“: Ja, Open Source schützt vor der US-Digitalsteuer und kann viel zu europäischer Souveränität beitragen. Aber welche Organisation hat dann das Geld zur Verfügung, die nächste und übernächste Technologie zu entwickeln? Der deutsche Staat mit Fördermitteln? Oder der einsame Programmierer-Wolf in seinem Gaming-Keller?

Was nicht hilft sind Dogmen und der Kopf im Sand

So weit, so deprimierend. Was sicher nicht hilft, ist die Augen zu verschließen: Die amerikanischen Public Clouds sind allen europäischen Pendants weit überlegen. Die großen Markterfolge mit Digitaltechnologie (Mobile, Cloud, AI) wurden und werden von US-Unternehmen erreicht. Punkt.

Was auch nicht hilft sind Dogmen: Autark werden zu wollen etwa, denn das schaffen noch nicht einmal die USA (siehe Chip-Industrie). Oder alle Ziele über Open Source erreichen zu wollen, denn das verkennt eine magische Triebfeder des Menschen (das Streben nach Reichtum). Oder Datenschutz als Über-Grundrecht zu praktizieren, denn dafür gibt es zu viele wichtige andere (Recht auf Leben, Gesundheit, Meinungsfreiheit, ...).  

Eine europäische, digitale Renaissance

Zuerst einmal ist es wichtig, nicht den Glauben an die eigenen Stärken zu verlieren. Europa hat sich mit Wissenschaft und Tatkraft aus der schwarzen Hölle des Mittelalters und dem machtvollen Griff der Kirche befreit. China hat sich binnen 30 Jahren von einem rückständigen Agrarland zu einem Industrie- und Digitalstaat auf Augenhöhe mit dem Westen entwickelt. Wir haben heute im Vergleich viel bessere Voraussetzungen.

Was also hilft? Aus meiner Sicht sind es drei Faktoren, die zusammenspielen müssen:

  1. Investitionen: Die jahrelangen Milliarden-Investitionen der US-amerikanischen Digitalunternehmen können T-Systems und IONOS nicht mit einem Griff ins Business-Development-Budget aufholen. Öffentliche und private Gelder müssen für europäische Unternehmen locker gemacht werden und nicht nur für Intel-Fabriken in Magdeburg. Mein Traum? Steuersparpläne. In den 2000ern fluteten Zahnärzte mit ihrem Geld Hollywood, danach die weltweite Schiffsindustrie. Wieso aktivieren wir dieses Potential nicht bezogen auf europäische Digitaltechnologien?
  2. Große Player: Europa braucht große Corporate Player, deren Produkte aus der digitalen Wertschöpfung nicht wegzudenken sind. Wenn Taiwan uns keine Chips liefert, dann liefern wir keine Chip-Fertigungsmaschinen (ASML). Wenn die USA uns die Cloud abdrehen, dann drehen wir die Buchhaltung ab (SAP). Von diesen Firmen brauchen wir mehr und dafür brauchen diese hoch-profitablen Produkte, manchmal auch mit Closed Source.
  3. Intelligente Regulation: Ohne Regulierung werden im Kapitalismus die Reichen reicher und die Armen ärmer. Digital gehört Europa zur zweiten Kategorie und damit unsere kleinen Unternehmen zu großen Playern werden, müssen wir sie mit intelligenter Regulierung schützen. Inspiration hierfür gibt es wieder in Kalifornien. Der Bundesstaat erklärte die in den USA üblichen Wettbewerbsklauseln für Arbeitnehmer für nicht anwendbar. Das verstärkte den Zufluss von Innovatoren aus ganz Amerika und führte (neben weiteren Gründen) zum High-Tech-Boom in Kalifornien.
Drei Faktoren sind der Schlüssel u mehr digitaler Souveränität: Investitionen, große Player und intelligente Regulierung.

Und Europa bewegt sich doch, ich bleibe Optimist

Die Tyrannei der schwarzen Null ist dank der Katastrophen der letzten Jahre am Ende. Deutschland und Europa nehmen Geld in die Hand, endlich. Der EU-Kommissar Thierry Breton und die Nationalstaaten beginnen mit aktiver Industriepolitik. Und Margrethe Vestager entwickelt sich zur Jeanne d’Arc der europäischen Regulierung. Hoffen wir das Beste und packen wir es an.

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