Hat Europas Privatwirtschaft eine Chance gegen Big Tech?

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20.11.2025
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10 min Lesedauer
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Im ersten Interview mit Prof. Dr. Roland Frank wurde deutlich, wie sich die globalen ökonomischen Rahmenbedingungen verschoben haben – vom Ricardo-Modell der komparativen Wettbewerbsvorteile hin zu einem strategischen Nullsummenspiel. Kooperation wird durch Abschottung ersetzt, Spezialisierung durch Machtpolitik. Im zweiten Gespräch ging es darum, welche staatlichen Interventionen-Optionen Europa hat und  welchen ökonomischen Effekten aus der Umsetzung resultieren könnten. Das dritte Gespräch nun dreht sich um die Frage, welche privatwirtschaftlichen Optionen EU-Unternehmen haben, um gegen Big Tech zu bestehen.


Gregor: Wieso tun sich europäische Unternehmen so schwer, gegen das US-amerikanisch dominierte Big Tech zu bestehen?

Roland: Die EuroStack-Studie beschreibt das in Annex A – Strategies of dominance sehr klar. Europäische Unternehmen treten in Märkte ein, die von einer über Jahrzehnte gewachsenen Machtkonzentration geprägt sind. Big Tech kontrolliert nicht nur Produkte, sondern komplette Ökosysteme, die mehrere Ebenen des digitalen Stacks gleichzeitig abdecken – von Betriebssystem und Cloud über Software bis hin zu Daten und KI. Genau diese vertikale Integration macht es europäischen Firmen so schwer, überhaupt Fuß zu fassen.

Gregor: Gib mal ein paar Beispiele.

Roland: Wenn man es durch die Brille der Seven Powers von Hamilton Helmer betrachtet, wird sehr schnell klar, warum europäische Anbieter kaum eine Chance haben. Big Tech besetzt fast alle dieser strukturellen Wettbewerbsvorteile gleichzeitig – und oft in extremer Ausprägung.

„Europäische Firmen kämpfen nicht gegen Produkte, sondern gegen komplette Ökosysteme.“

Nimm zum Beispiel Economies of Scale: Microsoft oder Amazon können ihre Dienste zu Grenzkosten nahe Null skalieren. Oder Network Effects: Google verstärkt mit jedem Suchvorgang seine Marktposition weiter. Switching Costs sieht man bei Apple oder Microsoft – einmal im Ökosystem drin, kommen Nutzer nur mit hohen Kosten wieder raus.

Auch Cornered Resources (etwa NVIDIAs bevorzugte Slots bei TSMC) oder Branding Power (OpenAI = „AI“) sind klassische Hamilton-Powers. Das Team von Francesca Bria hat in der Analyse des Problems wirklich gute Arbeit geleistet.

Gregor: Die Lage für europäische Unternehmen  ist also festgefahren. Geht es nur mit staatlicher Intervention?

Roland: Nicht unbedingt. Europäische Unternehmen können dort ansetzen, wo die systemische Schwäche von Big Tech liegt. Clayton Christensen beschreibt diese in seinem Innovator’s Dilemma: Große Konzerne optimieren ihre bestehenden Milliardenprodukte und übersehen deshalb häufig radikale Neuerungen, die am Anfang klein oder unprofitabel wirken.

Man sieht das sehr gut an Adobe, das lange nicht wahrhaben wollte, wie schnell Figma mit seinem kollaborativen, browserbasierten Ansatz die Creative Suite unter Druck setzt. Oder bei Meta, das TikToks Kurzvideo-Format zunächst als Spielerei abtat, weil es nicht in den Social-Graph passte. Google wiederum ignorierte Zoom jahrelang, weil das Angebot stabiler Videokonferenzen für ein Konzernprodukt wie Google Meet zu banal erschienen. Und Microsoft hat Slack zuerst als Nischenmessenger belächelt, bevor klar wurde, dass dessen radikale Einfachheit und Nutzerfokus ein völlig neues Nutzungsverhalten geschaffen hatten.

„Das Innovator’s Dilemma ist die größte Schwäche von Big Tech – und Europas beste Angriffsfläche.“

Gregor: Werde mal konkret: wie könnte Europa das Innovator’s Dilemma für sich nutzen??

Roland: Indem wir Zielgruppenbedarfe radikal neu denken. Genau das haben die erfolgreichsten Disruptoren gemacht. Shopify ist ein gutes Beispiel: Die haben erkannt, dass es zwischen der voll-Abhängigkeit zum Amazon-Marktplatz und der völligen Unabhängigkeit eines eigenen Webshops eine Marktlücke gibt. Daraufhin haben sie ein eigenes Ökosystem geschaffen, in dem tausende Apps die Lücken füllen, die Amazon gar nicht bedienen will. Das ermöglicht ebenfalls Lock-in-Effekte und Sonderrenditen, bietet aber trotzdem eine wertvolle Alternative für Kunden.

Gregor: Jetzt ist Europa ja traditionell stark in Hardware, etwa im Maschinenbau. Welche Chancen siehst du da?

Roland: Da sehe ich enorme Chancen. Europa ist im Maschinenbau und in der industriellen Hardware seit Jahrzehnten Weltklasse – aber der entscheidende Schritt fehlt noch: die vollständige Integration von Hardware und Software. Die Beispiele liegen auf der Hand. Tesla hat nicht das bessere Auto gebaut, sondern das erste wirklich software-first-Auto – mit Updates, Telemetrie, Diagnostik und neuen Funktionen im laufenden Betrieb. Und NVIDIA hat mit CUDA gezeigt, wie man um ein Hardwareprodukt ein Entwicklungsökosystem baut, das am Ende mehr Wert schafft als der Chip selbst.

Wenn der europäische Maschinenbau Hardware nicht als Produkt, sondern als Plattform denkt, dann öffnet sich ein völlig neues Spielfeld: Maschinen würden stetig besser, Kunden blieben im Ökosystem, und die Margen würden sich stärker aus Software, Services und Daten speisen als aus dem Verkauf der Geräte. Genau dort könnten europäische Hersteller ihre industrielle Stärke in langfristige, skalierbare Geschäftsmodelle übersetzen.

Auch hier liefert uns wieder amerikanische Unternehmen die Blaupause: John Deere hat den Bedarf an spezialisierten Plattformen und dem Verarbeiten von Daten „direkt vom Acker“ geschafft, ein unabhängiges Ökosystem aufzubauen – mit 800.000 vernetzten Agrarmaschinen weltweit.  

Gregor: Traditionell ist Europa auch gut in B2B-Geschäften. Was für Erfolgsmechanismen könnten wir hier bedienen?

Roland:  Im B2B-Bereich hat Europa tatsächlich einen strukturellen Vorteil. Big Tech ist stark in Massenmärkten, Standardservices und globalem Marketing – aber große Unternehmen brauchen oft etwas ganz anderes: Kontrolle, Anpassbarkeit und tiefe Integration. Genau das ist das Spielfeld, auf dem europäische Firmen gewinnen.

„Im B2B ist Europa stärker als Big Tech – weil hier Integration und Kontrolle wichtiger sind als Reichweite.“

Man sieht das bei SAP, das tief in die Prozesslogiken der Industrie eingestiegen ist – etwas, das Big Tech nie auf diesem Level erreichen konnte. Celonis versteht Unternehmensabläufe granularer, als es eine globale Plattform je könnte. UiPath hat Robot Prosess Automation (RPA) so zugeschnitten, wie Unternehmen in der Realität arbeiten. Und Adyen bietet eine konfigurierbare Zahlungsinfrastruktur statt eines starren Standardprodukts.

Übertragen auf KI heißt das: Europa muss keine neue globale Consumer-Plattform bauen. Wir können dort stark sein, wo es um komplexe, industrierelevante KI geht – also überall da, wo Tiefe wichtiger ist als Reichweite.

Gregor: Also alles in Butter? Brauchen unsere Manager einfach nur Digitalschulungen?

Roland: Nein, so einfach ist es nicht. Auch unsere Unternehmen stecken in ihrem eigenen Innovator’s Dilemma. Viele Führungskräfte sind im klassischen Branchendenken gefangen – geprägt von jahrzehntelang optimierten Prozessen, stabilen Kundenbeziehungen und verlässlichen Margen. Dazu kommen risikoaverse Shareholder und starke Finanzabteilungen, die jede Abweichung vom Kerngeschäft mehr als Bedrohung denn als Option sehen.

Darüber hinaus sollte nicht unterschätzt werden, wie kräftezehrend und risikoreich die Transformation vom traditionellen Anlagenbauer hin zu einem softwareorientierten Plattformanbieter wäre. Das ist kein Digitalschulungsproblem, sondern ein strukturelles.

Gregor: Also, was schlägst du vor?

Roland: Wir sollten zuerst in Unfair Advantages denken. Also: Wo besitzen wir etwas, das US-Big-Tech nicht einfach kopieren, kaufen oder nachbauen kann? Ein offensichtliches Beispiel ist die weltweit installierten Maschinen der europäischen Mittelständler – das ist ein einzigartiges, physisch verankertes Asset, auf das niemand sonst Zugriff hat.

„Wir dürfen unsere wenigen echten Wettbewerbsvorteile nicht verschenken, sondern müssen sie global ausrollen.“

Der nächste Schritt wäre dann, diese Basis nicht nur technisch, sondern kundenlogisch neu zu denken. Aus Hardware könnten softwarebasierte Plattformgeschäfte entstehen: Services, Datenprodukte, automatisierte Workflows, KI-gestützte Optimierung. All das baut auf einem Vorteil auf, den wir schon haben, und den Big Tech nicht duplizieren kann.

Gregor: Aber das ist ja zunächst eine kognitive Übung – das können wir Europäer ja. Und jetzt?

Roland: Genau. Und hier kippt der europäische Reflex oft in die falsche Richtung. Aus einem positiven Idealismus heraus versuchen wir, dieses Asset ‒ also unsere installierte Maschinenbasis, unsere Industriekunden und unsere Domänenexpertise ‒ in die Tech-Welt des 21. Jahrhunderts zu bringen. Dabei wollen wir dann alles gerechter, offener, inklusiver und transparenter machen. Wir reden über „offene Datenökosysteme“, „Open Source für alle“ oder „faire Plattformen“.

Spieltheoretisch und ökonomisch gedacht müssten wir aber das Gegenteil tun. Wenn wir einen echten ‚Unfair Advantage‘ haben, dann müssen wir es global ausrollen – nicht verschenken. Genau so, wie es im EuroStack-Paper im Kapitel „Competing for Dominance“ beschrieben wird:

Am Beginn steht die aggressive Skalierung. Amazon hat es vor 20 Jahren vorgemacht. Heute wird diese Strategie Eins zu Eins von OpenAI kopiert. Anschließend werden  kostenlose Libraries und Toolchains bereitgestellt, um die Nutzer zu binden, wie bei NVIDIA mit CUDA. Und schließlich schafft man ein Ökosystem, das so viele Mehrwerte bietet, dass es für Kunden rational ist, dabeizubleiben – wie Microsoft es seit Jahrzehnten perfektioniert. Haben wir dann die Dominanz in der aktuellen Technologie-Generation erreicht, dann nutzen wir sie, um unsere Kunden auch in unsere zukünftigen Produktgenerationen zu zwingen. Microsoft hat diese Strategie ja perfektioniert.

„Extraprofite sind kein Teufelszeug – sie sind die Voraussetzung, um Quantencomputing oder neue Chips selbst zu finanzieren.“

Gregor: Das klingt nach einer kompletten Abkehr von unserem europäischen Selbstverständnis. Bist du dir sicher, dass dieser harte Kurs überhaupt zu unserer politischen Kultur und zu unseren Unternehmen passt?

Roland: Ich erinnere an unser erstes Gespräch: Wir sind nicht mehr in einem kooperativen Spiel, sondern im Gefangenendilemma mit global rational agierenden Akteuren wie den USA und China. In so einer Welt wird nicht belohnt, wer besonders fair, offen oder zurückhaltend agiert, sondern wer strategisch handelt.

Wenn europäische Unternehmenr die beschriebene  Strategie wirklich durchziehen würden, könnten wir die entstehenden Extraprofite nutzen, um die nächste technologische Welle selbst mitzufinanzieren – Quantencomputing, neue Chiparchitekturen, industrielle KI. Genau so entsteht Dominanz im digitalen Zeitalter.

Gregor: Jetzt will ich doch noch einmal über die Politik sprechen. Was könnte die denn tun, um Europas Privatwirtschaft in die von Dir geschilderte Richtung zu entwickeln?

Roland: Ich sehe da einen zentralen Hebel: mehr Koordination zwischen den vielen föderalen Ebenen und heterogenen Länderinteressen in Europa. Wenn absehbar ist, dass ein europäisches Startup zum globalen Monopolisten werden könnte – wie ASML in seinem Segment – dann darf nicht die nationale Kartellbehörde dazwischengehen, nur weil wir dann auch in Europa ein Monopol hätten. Genau solche Chancen müssen wir strategisch schützen, nicht verhindern.

Gregor: Wie würde sich insgesamt das geopolitische Gleichgewicht dadurch verändern?

Roland: Gegenseitige Abhängigkeiten würden stärker und symmetrischer. Heute haben wir im globalen Tit for Tat kaum Trümpfe in der Hand, weil wir von allen Schlüsseltechnologien abhängig sind. Wenn wir eigene Dominanzpunkte aufbauen, verschiebt sich dieses Gleichgewicht. Wir könnten auf Maßnahmen der USA oder Chinas reagieren, statt sie nur zu akzeptieren. Und wir hätten nicht die direkten Nachteile des klassischen Protektionismus – also höhere Preise, schlechtere Angebote und sinkende Wettbewerbsfähigkeit.

Gregor: Vielen Dank für Deine Zeit!


Takeaways für den Analytischen Rahmen der Kostenabschätzung für den EuroStack

Dieses Interview steht im Kontext unserer Initiative zur Kalkulation der Kosten zum Aufbau eines europäischen Tech Stacks. Folgende Erkenntnisse nehmen wir hieraus mit für die kommende Analyse der Aufwände je Wertschöpfungsketten-Element des Tech Stacks.

Erkenntnis / HebelFragen je Element des Tech Stacks*
1. Big Tech dominiert über Ökosysteme, nicht ProdukteWie stark ist jedes Stack-Element in bestehende US-Ökosysteme eingebettet (OS, Cloud, Daten, KI)? Welche Kosten entstehen, wenn Europa eigene Alternativen entwickelt oder Lock-ins aufbricht?
2. Seven Powers sind strukturelle EintrittsbarrierenWelche der Seven Powers (Scale, Network Effects, Switching Costs, Cornered Resources, etc.) wirken in diesem Element am stärksten? Welche Aufwände wären nötig, um hier europäische Gegenkräfte aufzubauen?
3. Innovator’s Dilemma ist ein realer AngriffsvektorGibt es in diesem Element Bereiche, die Big Tech aufgrund von Trägheit unterschätzt? Welche Kosten entstehen, um frühzeitig Nischen zu besetzen oder neue Kategorien zu schaffen?
4. Zielgruppenbedarfe neu denken schafft Raum für DifferenzierungWelche unbefriedigten Kundenbedarfe existieren in diesem Element? Welche Ressourcen wären nötig, um daraus ein neues Wertversprechen (z. B. Shopify-/Figma-Logik) zu entwickeln?
5. Hardware + Software = europäischer WettbewerbsvorteilWelche physischen Assets (Maschinen, Sensorik, Industrieinfrastruktur) existieren in diesem Layer? Welche Investitionen wären notwendig, um daraus Softwareplattformen und Datendienste aufzubauen?
6. B2B-Integration als europäisches KernfeldWo erfordern Unternehmen tiefe Integration, Anpassbarkeit oder Compliance? Welche Kosten entstehen durch kundenspezifische Implementierungen, und welche Einsparungen durch europäische Nähe?
7. Europäische Unternehmen haben ihr eigenes Innovator’s DilemmaWelche internen Strukturen (Finanzabteilungen, Governance, Shareholder) erhöhen die Transformationskosten? Welche Investitionen wären nötig, um neue Geschäftsmodelle trotz interner Trägheit umzusetzen?
8. Unfair Advantages müssen identifiziert und geschützt werdenWelche nicht kopierbaren Assets existieren je Stack-Element (Domänenwissen, Maschinenparks, Daten)? Welche Kosten entstehen, wenn Europa eigene Plattformen auf diesem Vorteil aufbaut – statt ihn zu öffnen?
9. Dominanzstrategie senkt langfristig AbhängigkeitenWelche Stack-Elemente könnten Europas eigene Machtpunkte werden? Welche initial hohen Kosten führen langfristig zu geringeren Abhängigkeiten (Tit-for-Tat-Vorteil)?

Alle Texte, Daten und Grafiken...

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