Führt gelungene Digitalisierung zum Überwachungsstaat?

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02.06.2024
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5 min Lesedauer
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Deutschland ist föderal. Es gibt Bund, Länder und Gemeinden, und es gibt viele weitere Behörden und Organisationen des öffentlichen Dienstes. Der Datenschatz in Summe ist riesig, aber in der Praxis sind es viele kleine Schätze, verteilt auf viele kleine Kisten.

Für die BürgerInnen ist dies eine Last, denn sie sind es, welche die Daten für den Staat immer wieder neu zusammenführen müssen. Einmal für den Elterngeld-Antrag, einmal für das Kindergeld, einmal für die Grundbuchreform. Was aber wäre, wenn der Staat seine Daten zusammenführen würde? Wir bekämen einen reibungslosen Service, aber hätten wir dann nicht ein ganz anderes Problem?

cloudahead Anita Klingel

Zur Person

Anita Klingel berät Bund, Länder und Kommunen zum Umgang mit künstlicher Intelligenz. Ihr Interesse gilt vor allem Verfahren zum verantwortungsvollen Einsatz von KI-Systemen, von der ersten Strategieerstellung bis hin zu Implementierung und dem Auditing konkreter Anwendungen. Sie veröffentlicht zu diesen Fragen gemeinsam mit Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung Artikel und Fachbücher.

Gregor: Anita, wie gut arbeiten die verschiedenen Behörden und Verwaltungen Deutschlands heute zusammen?

Anita: Qualität und Quantität der Zusammenarbeit unserer Behörden variieren stark je nach Thema und Ebene. Einerseits gibt es sehr viele Konsolidierungsbemühungen, beispielsweise auf interföderaler Ebene durch den IT-Planungsrat bzw. die FITKO oder unter den IT-Dienstleistern durch GovDigital. Andererseits sind Föderalismus und Ressortprinzipien auf eigenständiges Handeln ausgerichtet – Transparenz und Kooperation werden so oft eher als Risiken bewertet als als Potenziale.   

Gregor: Deutschlands Gründerväter haben sich ja beim Föderalismus was gedacht. Ist eigenständiges Handeln denn nicht etwas Gutes?

"Föderalismus kann im Staatshandeln Wettbewerb erzeugen."

Anita: Föderalismus kann durchaus von Vorteil sein, denn es ist einer Möglichkeit, im Staatshandeln Wettbewerb um die beste Lösung zu erzeugen. Außerdem können Aufgaben so besser verteilt werden, beispielsweise nach dem Einer-für-alle-Prinzip (EfA). Und nicht zuletzt können die verschiedenen föderalen Organe auf diese Weise besonders gut auf regionale Unterschiede eingehen. Nur: Gerade technische Lösungen skalieren durch die dezentrale Vielfalt schlecht bis gar nicht. Außerdem fehlen an allen Ecken und Enden standardisierte Schnittstellen für den Datenaustausch.

Gregor: Was genau meinst du damit?

Anita: Eine service-orientierte Verwaltung, die sich an den Bedürfnissen der BürgerInnen orientiert, müsste eigentlich im Hintergrund alle dem Staat bekannten Informationen voll-automatisch austauschen. Wenn beispielsweise Eltern dem Staat die Geburt ihres Kindes mitteilen, müsste dieser die Information im Hintergrund weitergeben an das Standesamt, das Einwohnermeldeamt, das Finanzamt, die Krankenkasse und die Familienkasse. Für einen richtig guten Service würde die Verwaltung auch einen Kita-Platz in der Nähe reservieren.

In Deutschland ist für derlei Informationsaustausch aber jeder Mensch selbst zuständig. Er oder sie wird möglicherweise sogar dafür bestraft, wenn er der einen Behörde Informationen nicht mitteilt, die der anderen Behörde schon vorliegen.

Die fehlende digitale Leistungsfähigkeit des Staates wird somit zum Problem seiner BürgerInnen.

"Mit X-Road wird staatliche Verwaltung nicht nur wirtschaftlich effizient, sondern auch datensparsam."

Gregor: Wie lösen denn andere Länder außerhalb Deutschlands den innerstaatlichen Datenaustausch? Wir sind ja nicht der einzige Staat mit mehr als einer Behörde …

Anita: Ein vielversprechendes Beispiel ist der X-Road-Layer aus Estland. Die Lösung ist Open Source, wird inzwischen auch in über 20 Ländern verwendet und in Deutschland erprobt.

Die Idee dahinter ist: Daten werden nur einmal bei einem Datentreuhänder gespeichert. Wenn dann eine Behörde Daten benötigt, fragt sie diese gezielt an und schildert, was genau sie benötigt und zu welchem Zweck. Die BürgerInnen sehen diese Anfrage und können sie freigeben. Ein zentraler Verzeichnisdienst erleichtert die Suche nach Diensten. Anfragen und Antworten werden verschlüsselt übertragen. Protokollierung und technisches Monitoring sichern die Integrität der Daten. Nach Verwendung werden die Datensätze dann sofort und automatisch wieder gelöscht. Nur wenige Sicherheitsorgane haben doch mehr Zugriff auf die Daten.

Auf diese Weise wird die staatliche Verwaltung nicht nur wirtschaftlich effizient, sondern auch datensparsam. Estland hat in diesem Zuge sogar die Doppelablage von Daten verboten.

Gregor: Immer diese Esten. Wie fühlt sich X-Road aus BürgerInnen-Sicht an?

Anita: Ich als BürgerIn bekomme eine Nachricht auf meinem Handy, dass folgender Datenpunkt von folgender Behörde zu folgendem Zweck erbeten wird. Diesen Zugriff kann ich dann sogar, unter bestimmten Bedingungen, ablehnen. Das schafft nicht nur Transparenz, sondern auch Vertrauen in den Staat.

Gregor: Aber ist das auf uns in Deutschland übertragbar? In Deutschland gibt es ja viel Misstrauen gegenüber dem Staat.

"Auch ein dezentraler Staat wie Deutschland ließe sich mit X-Road abbilden."

Anita: Dieses Misstrauen ist ja historisch nicht unbegründet: Eine einheitliche Datenbank über bestimmte Merkmale aller Bürgerinnen und Bürger unter staatlicher Kontrolle ist nur unter einer genuin demokratischen, rechenschaftspflichtigen Regierung wünschenswert.

Eines der Ziele, das unsere Verfassungsväter mit dem deutschen Föderalstaat verfolgten, war es daher, mit starken Bundesländern den Gefahren undemokratischer Tendenzen einer Zentralregierung zu begegnen. Aber auch ein dezentrales Land wie unseres ließe sich mit X-Road abbilden. Wir könnten zum Beispiel je Bundesland einen Datentreuhänder schaffen und diese wiederum untereinander verbinden. X-Road kann nicht nur zwischen unterschiedlichen Verwaltungsebenen vertikal Daten vermitteln, sondern auch horizontal zwischen Akteuren, die nebeneinanderstehen.

Gregor: Wäre ich Verschwörungstheoretiker, würde ich jetzt sagen: „Aber diese Transparenz ist doch fake. Im Hintergrund macht der Staat doch eh was er will?“

Anita: Ja, die Sorge kann ich nachvollziehen. Je höher die Machtkonzentration, umso wichtiger ist eine wirklich effektive und transparente Kontrolle. Aber auch dafür gibt es gute Lösungen: Von regelmäßigen Kontrollen durch eine Art „Datenrechnungshof“ über unabhängige Überprüfungen durch WissenschaftlerInnen, das gute alte Vier-Augen-Prinzip bis hin zu öffentlichen Beschwerdekanälen.

Gregor: Zum Schluss noch eine persönliche Einschätzung: Wie machbar ist so ein X-Road für Deutschland? Rechtlich, politisch und technisch?

Anita: Als KI-Ethikerin sind Technologie, Daten und Ethik mein Kerngeschäft. Ob und welche rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland für die Einführung von X-Road fehlen, kann ich leider nicht sagen. Die Tatsache aber, dass das Konzept in so unterschiedlichen Ländern wie den Faröer Inseln, Aserbaidschan und Finnland funktioniert, zeigt: eigentlich müsste es auch in Deutschland klappen.

Vielleicht ist unser Föderalismus auch hier ein Vorteil. Denn Bayern oder das Saarland können X-Road ja einfach mal eigenständig einführen.

Anita, vielen Dank für Deine Zeit

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