Prof. Dr. Roland Frank ist Experte für digitale Transformation und Wissenschaftler mit über 15 Jahren Erfahrung an der Schnittstelle von Medien, Technologie und Management. Aus wissenschaftlicher Perspektive treibt er Innovationen voran und entwickelt Konzepte zu Cloud-Strategien, KI-gestützten Geschäftsmodellen und Einsatzszenarien von disruptiven Technologien in Wertschöpfungsketten.
Er promovierte über normative Entscheidungsprozesse in internationalen Beziehungen und überträgt diese Perspektive heute auf Fragen der digitalen Transformation. In seinen Büchern über Cloud-Transformation und die Programmable Economy beleuchtet er, wie APIs und Cloud-Technologien neue Formen von Wertschöpfung und Unternehmensführung ermöglichen.
Das Gespräch mit Prof. Dr. Roland Frank bildet den Auftakt unserer EuroStack-Reihe. Gemeinsam definieren wir den analytischen Rahmen, mit dem wir in den kommenden Wochen die einzelnen Wertschöpfungselemente des europäischen Tech Stacks untersuchen werden.
Gregor: Welches ökonomische Modell ist in der Lage, die Entwicklung des globalen Tech Stack in den vergangenen Jahrzehnten zu erklären?
Roland: Das Ricardo-Modell der komparativen Wettbewerbsvorteile hilft dabei, einen Teil der Entwicklung besser nachvollziehen zu können. Die Grundidee von David Ricardo lautet: Jedes Land konzentriert sich auf die Herstellung der Güter und Dienstleistungen, bei denen es relativ am effizientesten ist, und kauft den Rest im Ausland ein. So entsteht mehr Wohlstand für alle. Global funktionierte das lange gut, solange die Märkte offen sind.
Gregor: Gib mal ein Beispiel aus der Praxis.
Roland: Europa spezialisierte sich in der Nachkriegszeit auf klassische Produktionssektoren. So entstanden die mächtigen Industriecluster: Autos, Maschinenbau, Chemie, Pharma. Dagegen gab es in den 1970er und 1980er Jahren eine Deindustrialisierungswelle in den USA. Die Unternehmen dort setzten auf Finanzdienstleistungen und Private Equity. Die Forschung blieb im Land, während die Produktion immer stärker nach Südostasien wanderte. Seit den 1990er Jahren bauten die amerikanischen Unternehmen konsequent ihren Vorteil in Software und der Halbleiterentwicklung aus. Seit dem Beginn des neuen Jahrtausends fokussierten die Tech-Giganten der USA auf die Entwicklung der Cloud und KI.
Das klingt zunächst unspannend. Im Ergebnis sind aber große und ausdifferenzierte Wertschöpfungscluster entstanden – sowohl in den USA als auch Europa.
„Ricardo hat uns Wohlstand gebracht – aber nur so lange alle mitspielten.“
Gregor: Wie sieht so ein Cluster in Deutschland aus?
Roland: Hierzulande gibt beispielsweise es eine dichte Zulieferkette im Automobilbau: von Stahl- und Chemieindustrie über Maschinenbau bis hin zu Elektronik und Sensorik. Dazu kommen Forschungsinstitute und Universitäten, die eng mit den Herstellern zusammenarbeiten. Dann die großen OEMs selbst – VW, BMW, Daimler – mit ihren F&E-Zentren. Ergänzt wird das durch Dienstleister wie Logistik, Softwarefirmen, Agenturen und Ingenieurbüros. Und nicht zu vergessen: ein Pool an Fachkräften, die in genau diesem Umfeld groß geworden sind. Das Ganze erzeugt Spillover-Effekte: Innovationen – etwa bei Batterien oder autonomem Fahren – verbreiten sich schnell im ganzen Cluster.
Gregor: Also eine Art selbstverstärkendes Ökosystem?
Roland: Genau. Wenn du in Deutschland ein Auto baust, profitierst du davon, dass alles da ist: Zulieferer, Know-how, Fachkräfte, kurze Wege. Das macht die Industrie effizient, konkurrenzfähig aber auch flexibel, wie man am Beispiel von Tesla sieht.
Gregor: Aber Tesla ist doch ein US-Unternehmen …
Roland: Aber es hat sich beim Aufbau seines Geschäfts massiv beim deutschen Cluster bedient. 2016 wurde der deutsche Maschinenbauer Grohmann Engineering übernommen. 2020 dann ATW, ein Spezialist für Maschinen, die für die Batteriefertigung benötigt werden. Die Firma Manz aus Reutlingen mit ihrem Spezialwissen zu Automatisierungstechnik, Laserbearbeitung, Messtechnik und Spezialmaschinen folgte 2025. Dazu noch viele individuelle Führungskräfte. Und: viele Teile stammen von Bosch, Continental, Hella oder ZF.
„Europa hat Huawei die Technologie beigebracht, die wir heute teuer zurück lizenzieren.“
Ein weiteres, traurig-ironisches Beispiel der Kraft solcher Wertschöpfungsnetzwerke ist der Erfolg von Huawei bei 5G.
Gregor: Was meinst du damit?
Roland: Die Chinesen haben früh verstanden, dass man technologische Dominanz nicht in gesättigten Red-Ocean-Märkten erreicht. Während 3G und 4G in den 2010er Jahren noch von europäischen Firmen wie Nokia und Ericsson dominiert wurden, hat Huawei systematisch in Europa Forschungszentren aufgebaut und Fachkräfte abgeworben. So entstanden Zentren in München (Netzwerktechnik), Paris (Mathematik & Algorithmen), Leuven/Belgien (Chip- und Materialforschung), Stockholm (Netzwerke & Software) oder auch Mailand (Netzwerke, Cybersecurity und IoT).
Gregor: Klasse, wir haben den Aufstieg Chinas zum Tech-Giganten also aktiv gefördert. Was können wir wiederum von China lernen?
Roland: Wir können von China lernen, wie konsequent strategische Industriepolitik umgesetzt wird. Dort gilt nicht das naive Vertrauen auf offene Märkte, sondern ein klarer Spielplan: eigene Märkte schützen, Abhängigkeiten gezielt vermeiden, Schlüsselindustrien aufbauen – auch mit Protektionismus, wenn nötig. Das ist spieltheoretisch rational.
„Naiver Freihandel macht uns im globalen Tech Stack zum Verlierer.“
Gregor: Welche Erkenntnisse können wir aus der Anwendung der Spieltheorie für die aktuelle Marktsituation ziehen?
Roland: Das offene System von Ricardo setzt voraus, dass alle Seiten kooperieren und sich auf ihre komparativen Vorteile konzentrieren. Dieses Kooperationsmodell ist aber sowohl von den USA als auch von Chinaaufgekündigt worden – durch Strafzölle, Marktabschottung und gezielte Industriepolitik. Damit kippt das Spiel. Wir befinden uns aus spieltheoretischer Perspektive in einem Gefangenendilemma: Wenn Europa weiter nach den alten Ricardo-Regeln spielt, während die anderen Seiten defektieren, werden wir ausgebeutet. Die rationale Antwort also lautet: Weg von Ricardo, hin zur Spieltheorie.
Gregor: Ok, immerhin eine klare Losung. Was aber bedeutet das konkret für den aktuell unseren Tech Stack?
Roland: Konkret heißt das: Wir müssen den transatlantischen Tech Stack nicht mehr als kooperatives Projekt betrachten, sondern als Konkurrenzarena. Solange wir naiv offen bleiben, fließt Wertschöpfung ab – Daten, Gewinne, Talente. Und diese Abhängigkeiten wirken nicht nur innerhalb des Tech Stacks selbst, sondern haben Spillover-Effekte in alle Bereiche. Betrachten wir zum Beispiel das aktuelle Zollabkommen zwischen den USA und der EU: mit der Ausgestaltung dieses Abkommens demonstriert die USA ihre aktuelle Vormacht-Position. Europa wird an dem Ring durch die Manege gezogen.
Gregor: Und was lernen wir daraus?
Roland: Eine mögliche Lösung aus dem Gefangenendilemma bieten Regeldebatten. Können sich alle Seiten auf neue Spielregeln einigen, dann kann Kooperation gelingen und das System von Ricardo wieder in Kraft treten. Aktuell sehe ich für eine solche Spielregel-Debatte keine Grundlagen. Wenn sich teilnehmende Parteien an den Spieltisch setzen und einseitig und ohne Rücksprache neue Regeln aufsetzen, dann scheint diese Option – aktuell zumindest – zum Scheitern verurteilt.
Gregor: Welche Schlußfolgerungen sollte Europa aus dieser Analyse ziehen?
Roland: Wir müssen anfangen, systematisch in Gegenzügen zu denken. Das heißt konkret: Digitalzölle und strengere Datenschutzauflagen, um die Wertschöpfung zurück nach Europa ziehen. Warum zögern wir beispielsweise, europäische Regulierung wie den DMA/DSA systematisch anzuwenden?
Daneben sollten bei Marktzugängen auf Joint Ventures bestehen, damit Know-how nicht nur abfließt, sondern auch hierbleibt. Gleichzeitig braucht es gezielte Nachfrage nach europäischen Tech-Lösungen, etwa durch Verwaltung oder KRITIS-Unternehmen, um endlich Skaleneffekte zu erzeugen.
„Was wir brauchen, ist Geld und technologie-strategisches Denken in den Chefetagen.“
Gregor: Wie könnte das konkret aussehen?
Roland: Wenn andere Länder ihre Unternehmen schützen, dann wird aus dem globalen Positivsummenspiel ein Nullsummenspiel – ökonomisch bekannt als „Merkantilismus“. Als Antwort sollten wir eigene Schutzräume für europäische Unternehmen schaffen – etwa Sonderwirtschaftszonen – und eine aktive Industriepolitik betreiben. In diesen Zonen könnte es etwa eingeschränkte Datenschutzbestimmungen oder niedrige Energiepreise geben.
Strategische Übernahmen sollten wir kontrollieren: feindliche Käufe verhindern, eigene Akquisitionen in den USA dagegen gezielt unterstützen. Und nicht zuletzt müssen wir das verfügbare Kapital für europäische Tech-Player massiv erhöhen – durch Venture-Fonds, steuerliche Anreize und öffentliche Investitionsvehikel – zum Beispiel in Form von gemeinsam emittierten Anleihen auf europäischer Ebene geschehen.
Gregor: Das klingt nicht nach einem einfachen ‚weiter so‘.
Roland: In der Tat. Das wird teuer, sehr teuer sogar – und zwar nicht nur in Form von Geld, sondern auch in Form von politischem Willen und unternehmerischem Mut. Was wir vor allem brauchen, ist Tech- und Strategieverständnis in den Chefetagen – sowohl in den Unternehmen als auch in der Politik. Wenn Entscheidungsträger die Mechanismen des Tech Stacks nicht begreifen, finden wir nie aus den Abhängigkeiten heraus. Zusätzlich brauchen wir neue Institutionen, die diese Industriepolitik auch operativ steuern können: also Strukturen, die europaweit Investitionen koordinieren, technologische Prioritäten setzen, Regulierung agil weiterentwickeln und europäische Player systematisch unterstützen.
Ohne dieses Zusammenspiel von Kapital, Regulierung und Kompetenz kommen wir in der aktuellen spieltheoretischen Gemengelage nicht aus der Opferrolle heraus.
Gregor: Vielen Dank für Deine Zeit.
Takeaways für den Analytischen Rahmen der Kostenabschätzung für den EuroStack
Dieses Interview steht im Kontext unserer Initiative zur Kalkulation der Kosten zum Aufbau eines europäischen Tech Stacks. Folgende Erkenntnisse nehmen wir hieraus mit für die kommende Analyse der Aufwände je Wertschöpfungsketten-Element des Tech Stacks.
Erkenntnis | Fragen je Element des Tech Stacks* |
Ricardo erklärt die Spezialisierung: Europa in klassischen Industrien, USA im Tech-Sektor. | Welche historischen Spezialisierungsmuster sehen wir im jeweiligen Element? Wo liegen Europas Stärken, wo die USA/China? |
Gegenstand der Spezialisierung ist nicht nur die Branche, es geht um ganze Wertschöpfungscluster. | Welche Details des Wertschöpfungsclusters sind je Element besonders wichtig und welche davon gibt es in Europa? |
Ricardo funktioniert nur bei kooperativem Verhalten der Akteure. | Wie offen ist der Markt aktuell bei diesem Element und welche Anzeichen für Abschottung oder Unkooperativität gibt es? |
Bei Spieltheorie geht es vor allem um individuelle Stärke. | Welche besonderen Druckmittel gibt es in diesem Element? Wem stehen diese aktuell zur Verfügung? |
Mit Abnahme der Relevanz von Ricardo gehen gesamtwirtschaftliche Kostenvorteile verloren. | An welcher Stelle in diesem Element werden sich konkret die steigenden Kosten zeigen? |
Man erreicht technologische Dominanz am besten bei Technologie-Sprüngen. | Welche Technologiesprünge stehen in dem Element? Wie könnte Europa dies nutzen? |
* Elemente des Tech Stacks sind: Rohstoffe und Verarbeitung, Netzkomponenten, Netzinfrastruktur, IT-Hardware, Cloud-Infrastruktur, zentrale Software-Ökosysteme, Finanzinfrastrukturen, Endgeräte sowie Künstliche Intelligenz.