Die Steuererklärung auf dem digitalen Bierdeckel

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04.12.2023
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8 min Lesedauer
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Zugegeben, mein Blog-Post „7 Gründe warum sich Deutschlands Digitalisierung noch weiter verzögert“ war nicht besonders konstruktiv. Eine einschlägige Expertin brachte es auf den Punkt: „Wie kann man so nah an Schönebergs besten Croissants leben und dabei so negative Artikel schreiben?“ Ein anderer Leser bemängelte lapidar den Mangel an Konkretion: „Das Thema Digitalisierung ist nicht klar definiert.“

Inspiriert von der Merz´schen Idee einer Steuererklärung auf dem Bierdeckel, versuche ich mich nun einmal an einer konstruktiven und konkreten Version meiner Gedanken.

Wie ich mir die Steuererklärung vorstelle

Friedrich Merz wollte damals das Steuersystem so weit vereinfachen, dass die Berechnung der individuellen Steuerlast auf einen Bierdeckel passt. Der Nachteil? Unser Steuersystem ist unter anderem so kompliziert, weil hinter vielen Steuerregeln auch Steuerungsideen stecken. Die Zigarettensteuer, damit wir weniger rauchen, Steuern auf Alkohol, damit wir weniger trinken. Nicht alles davon funktioniert, aber insgesamt ausreichend, damit die Gesellschaft lieber beim komplizierten Steuersystem bleibt.

Der Vorteil eines digitalen Steuer-Bierdeckels? Wir könnten die unglaubliche Regelmenge im Hintergrund behalten, trotzdem aber eine bierdeckelartige User Journey erlauben. Wie stelle ich mir das vor?

Der Staat schickt mir über seine App – ich nenne Sie Bundes-App – eine Mitteilung auf mein Handy. Darüber gelange ich zu meiner vorausgefüllten Steuererklärung. Vorhanden sind dort Vorjahresdaten, ergänzt um jene von angebundenen Drittanbietern wie Krankenkassen, Sozialversicherungen und Arbeitgeber. Ich erhalte, basierend auf vergleichbaren Steuererklärungen, intelligente Vorschläge zu Dateneingaben, die ich noch per Hand ergänzen könnte. Hochgeladene Dokumente werden inhaltlich verstanden und in die korrekte Maske eingetragen. Die grafische Benutzeroberfläche sieht aus wie von Google gestaltet, alle Texte sind in Alltags-Deutsch gehalten und ohne steuerliches Domänenwissen verständlich. Die Oberfläche ist je nach Bundesland lokal, Bayern zeigt blau-weiße Rauten, Berlin duzt seine NutzerInnen.

Weil meine Steuererklärung ziemlich Standard ist, kann ich sie nach 3 Minuten abschicken. Ich erhalte binnen 30 Sekunden meine Steuer-Rückerstattung ausgerechnet. Wenn ich sie akzeptiere, dann ist das Geld binnen einer Minute auf meinem Konto. Akzeptiere ich nicht, kann ich mit der Steuerverwaltung chatten oder mir auf einem Marktplatz eine Steuerkanzlei auswählen, die sich weiter um die Details kümmert.

Das ist meine Vorstellung eines digitalen Deutschlands: Die Verwaltung als proaktiver Anbieter von digitalen Produkten.

7 Tipps, wie der deutsche Staat zum digitalen Produktanbieter werden könnte

Die positive Nachricht dabei ist: Nichts, was dafür notwendig ist, müsste erfunden werden. Die Alltags-Sprache, die intuitive Oberfläche und eine Staats-App. Organisationen, die im Hintergrund über APIs kommunizieren. Komplizierte Logik, verteilt über dezentrale Services mit unterschiedlichen Verantwortlichen. Skalierende IT-Infrastrukturen und künstliche Intelligenz für Textumwandlung und Anliegenerkennung. Das Wissen, wie man digitale Produkte managed und zum Erfolg bringt. Alles ist da und wird seit langem von deutschen Unternehmen praktiziert und an deutschen Hochschulen gelehrt.

Wie könnte die Umsetzung also aussehen?

1.      Wagt euch an das Löwenprojekt

Bevor Frederik Blachetta Chief Data Officer im Kanzleramt wurde, sagte er auf der Smart Country 2022: „Wir brauchen mehr Löwenprojekte.“ Ein Mensch in der Politik, Christian Lindner etwa, müsste den Mut haben, das Löwenprojekt „digitale Bierdeckelsteuer-App“ zu verkünden und durchzuziehen.

  • Sein Versprechen: „Im Jahr 2027 benötigen einfache BürgerInnen für ihre Steuererklärung 5 Minuten, die Rückerstattung ist nach 10 Minuten auf dem Konto!“
  • Sein Business Case: Die digitalisierten Produkte erlösen 10.000 Finanzbeamtinnen von langweiliger Fleißarbeit. Sie werden eingesetzt zur Bekämpfung von Geldwäsche und erzeugen 10 Mrd. € zusätzliche Einnahmen pro Jahr.
  • Sein Löwen-Job: Lindner kämpft das Projekt gegen alle Proteststürme und Scheinargumente der Lobbys durch. Beamtenbund, Steuerberatervereinigung und Datenschützer lassen grüßen. 
2.      Eignet euch das Wissen an

Das notwendige Wissen in Deutschland ist da. GrafikerInnen und LinguistInnen, Software-ArchitektInnen und -EntwicklerInnen, Sicherheitsfachleute und DevOps-Engineers.

Am schwierigsten wird es bei den ProduktmanagerInnen, denn diese müssen einen seltenen Spagat hinbekommen: Steuerliches Domänenwissen gepaart mit Verwaltungsrecht und -Erfahrung sowie Tech-Know-how. Aber wir sind 84 Millionen Deutsche, da werden wir schon 2-3 Menschen finden.

3.      Seid kreativ bei der Bezahlung

Natürlich handelt es sich um ein Projekt mit Purpose, Geld ist nur ein Hygienefaktor und macht nicht glücklich. Aber ihr benötigt in einem solchen Löwenprojekt Menschen mit Erfahrung in der Digitalisierung. Die benötigten Top-Leute sind meist zwischen 35 und 50, haben sehr gut bezahlte Jobs und müssen ihre Familie ernähren und ihre Wohnung abstottern. Ihr könnt nicht erwarten, dass sie Schulden aufnehmen, um Deutschland zu digitalisieren.

Also seid kreativ, denkt euch eine „Digitalisierungszulage“ aus, macht sie alle zu Referatsleitern ohne Referat, lasst sie ihre Rente zinsfrei beleihen, erfindet ein Sondervermögen, bezahlt sie nach Bürgerzufriedenheit, was auch immer. Aber bitte nehmt keine externen Berater für Produktmanagement und Tech-Know-how, denn das sind Kernkompetenzen im Zeitalter der Digitalisierung, und diese dürfen nicht bei Söldnern liegen.

4.      Nehmt Hilfe an – auch von Microsoft et. al.

Die deutsche Verwaltung wird Anbieter von digitalen Produkten, so wie die europäischen Unternehmen Spotify, DeepL oder IONOS.  Oder eben wie Microsoft, Google und Amazon. Der Unterschied? Die letzteren tingelten 10 Jahre durch die hiesige Konzernlandschaft und erklärten den deutschen Konzern-LenkerInnen mit viel Geduld, was Marc Andreesen mit „Software is eating the world“ meinte. Der erste Erfolg war deren modischer Wechsel hin zu Turnschuhen (Zetsche, Höttges & Rabe), danach dann ging es um Investitionsprojekte rund um Software (Daimler, VW, RTL und BMW).

Natürlich verdienen die Public Clouds Geld, wenn ihre Kunden digitale Produkte bauen, statt nur Hardware. Aber sie verdienen ihr Geld immerhin nicht durch endlose, sich im Kreis drehende Beratungsprojekte.

Aber machen wir uns da nicht abhängig? Abhängigkeit entsteht durch den Mangel an eigener Kompetenz. Würde Deutschland digital leistungsfähiger, dann könnte es sich jeder ungewünschten Abhängigkeit entledigen. Jeff Bezos hat sich aus dem Würgegriff von Oracle befreit, David Heinemeier-Hansson in sechs Monaten aus jenem der Public Cloud. Die Reihenfolge ist: Erst Leistungsfähigkeit, dann Kontrolle. Das ist einfacher als umgekehrt und macht noch dazu Spaß.

5.      Wagt euch auf die grüne Wiese

Die Kultur der heutigen Behörden ist nicht gemacht für Agile, für Experimente, für Digitalisierung. Und Peter Drucker hatte Recht, als er sagte: „Culture eats strategy for breakfast.“ Einen Kulturwandel in einer großen Organisation mit langer Tradition (Brownfield) zu erreichen, ist praktisch unmöglich.

Aber: In jeder hinreichend großen Organisation gibt es unglaublich viele kompetente Menschen, die gerne würden, aber nicht dürfen. Die haben meistens etwa 5-10 Jahre Berufserfahrung, kennen ihre Fach-Domäne perfekt und wissen, woran es in der Firma hakt. Nur hatten sie bis jetzt keine Chance, etwas zu ändern.

Der Schlüssel für unsere Bundes-App ist: Findet genau jene Fach- und IT-Experten, ladet sie ein, baut um sie herum eine große Firewall, heuert Digitalisierungsexperten aus der Privatwirtschaft an und lasst sie auf der grünen Wiese (Greenfield) neu gestalten. Ihr werdet Wunder erleben.

6.      Nehmt die Stakeholder mit auf die Reise

Presse und Bundesrechnungshof sind schwierige Stakeholder. In der Privatwirtschaft haben wir (wenngleich etwas weniger schlimm) Betriebsrat und Finanz-ControllerInnen. Die Lösung ist: Die KollegInnen müssen mit auf die Reise genommen werden.

Für Finanzfachleute ist die Cloud problematisch, weil sie ihre Excel-Spalten anpassen müssen: Sie vergleichen die virtuelle Maschine (VM) in der Cloud mit jener im klassischen Rechenzentrum. Nur gibt es bei einer gut gemachten Cloud eben keine VM mehr, zumindest keine, die man einmal anschafft und nach aktuellen Maßstäben über 3 Jahre abschreibt. Die Cloud-Reise für Finanzcontroller bedeutet also, dass sie die neuen Sichtweisen digitaler Produkte verstehen, dass sie FinOps lernen, und dass sie lernen, die Mehrkosten der Cloud mit den Einsparungen auf Prozessebene zu verrechnen.

Die Presse hingegen braucht Helden. Ihr müsstet die Heldenreise des Greenfield-Teams auf den sozialen Medien begleiten. Deutschland müsste mitfiebern, schaffen Peter und Büşra es, das Steuerdeutsch zu vereinfachen? Schafft es Fabian, den Kubernetes-Cluster aufzubauen? Flippt Helmuts Block-Storage heute wieder? Wie damals Klinsi, Basti und Schweini auf dem Weg zur WM 2006 auch Niederlagen sympathisch rüberbrachten – das Löwenprojekt könnte ein neues Sommermärchen werden.

7.      Macht Deutschland fit für das 21. Jahrhundert

Das Problem der mangelnden Digitalisierung ist riesig. Weil die Paradigmen der digitalen Welt nicht zu der Organisationsform der Behörden passen, werden diese unfähig zur Lösung der Probleme genau jener digitalen Welt.

Eine solche Erkenntnis gab es schon im 19. Jahrhundert, damals hatte die Industrialisierung Preußen disruptiert, die Minister von Stein/Hardenberg reagierten mit einer umfassenden Verwaltungsreform. Der politikschaffende Mensch, der das Löwenprojekt Bundes-App zum Erfolg geführt hat, wird hinterher wissen, wie eine solche Behördenreform aussehen muss. Und der politikschaffende Mensch, der diese Reform zum Erfolg führte, hätte seinen Ehrenplatz in der deutschen Geschichte gesichert.

Marco Buschmann hat den Punkt getroffen

Die Rede des Justizministers auf der Smart Country war exzellent. Er konstatierte, die BürgerInnen verlören ihr Vertrauen in den Staat, wenn sie sähen, wie der sich schlage im Bereich Digitalisierung. Und Recht hat er: Wie soll dieser Schwarzgeld jagen, Berliner Clans aushebeln, Herr über die Asylanträge werden, wenn seine digitale Top-Leistung darin besteht, dass das Führungszeugnis zwar online bestellbar ist, aber immer noch per Post versandt wird?

2015, als meine Reise in die Cloud begann, da haben mir alle gesagt: Ihr seid schon zu spät dran. Wenn ich seitdem eines gelernt habe, dann folgendes: Man ist in der Digitalisierung nie zu spät dran. Es kommt immer wieder eine neue Technologie-Generation und die Player mit der alten Technologie werden irgendwann scheitern am Innovator`s Dilemma – siehe Oracle, IBM, Kodak und bald auch VMware.

Nur wollen, das muss man.


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