Vom Counter Trump zu Reverse China

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30.10.2025
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9 min Lesedauer
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Im ersten Interview mit Prof. Dr. Roland Frank wurde deutlich, wie sich die globalen ökonomischen Rahmenbedingungen verschoben haben – vom Ricardo-Modell der komparativen Wettbewerbsvorteile hin zu einem strategischen Nullsummenspiel. Kooperation wird durch Abschottung ersetzt, Spezialisierung durch Machtpolitik. Die Konsequenz: Es wird teurer. Doch weder das Ricardo-Modell noch die Spieltheorie zeigen, wo genau diese zusätzlichen Kosten entstehen.

Im zweiten Gespräch geht es deshalb um die ökonomischen Folgen dieses Suboptimums: Welche staatlichen Interventionen verteuern welche Kostenkomponenten? Wie verändern sich Skaleneffekte, Wettbewerb und Investitionsanreize, wenn der Markt nicht mehr nach Effizienz, sondern nach durch staatliche Eingriffe hinsichtlich Souveränität optimiert wird?


Gregor: Du plädierst dafür, dass Politik und Wirtschaft in Europa stärker in spieltheoretischen Modellen denken. Welche Optionen hat der Staat in dem protektionistischen Umfeld, um wirksam zu reagieren?

Roland: Wenn man das strategisch betrachtet, hat der Staat im Grunde sieben zentrale Hebel. Der erste betrifft protektionistische Eingriffe von europäischer Seite – damit lassen sich Märkte abschirmen und heimische Unternehmen vor externem Druck schützen. Der zweite Hebel ist die investive und fiskalische Förderung, mit der sich gezielt Kapital in strategische Zukunftsbereiche lenken lässt. Drittens spielt die Nachfrage- und Beschaffungspolitik eine Rolle: Der Staat kann als Lead Customer auftreten und so heimische Anbieter stärken.

Ein vierter Hebel liegt in der regulatorischen Gestaltung, also darin, Innovationsräume zu schaffen, ohne den gesamten Markt freizugeben. Fünftens geht es um Infrastruktur- und Industriestrategie – den Aufbau jener Strukturen, auf denen digitale Souveränität langfristig aufbaut. Der sechste Punkt betrifft strategische Koordination und Governance, um nationale Programme besser zu verzahnen. Und schließlich siebtens die Arbeits- und Wissenspolitik: Ohne Fachkräfte, Forschung und Technologietransfer bleibt jede Strategie Theorie.

Gregor: Welche konkreten protektionistischen Maßnahmen  lägen nahe, und welche ökonomischen Auswirkungen hätten diese?

Roland:  Naheliegend wären zunächst Digitalzölle auf Cloud- oder KI-Dienstleistungen aus den USA – eine Art Counter Trump. Damit würden europäische Anbieter preislich konkurrenzfähiger, gleichzeitig stiegen aber die Einkaufspreise für Unternehmen und öffentliche Einrichtungen, die auf diese Dienste angewiesen sind.

„Naheliegend wären Gegenzölle – also ein Counter Trump“

Ein weiteres Beispiel wären Investitionskontrollen oder Beteiligungsbeschränkungen für außereuropäische Konzerne – etwa nach dem Vorbild des deutschen Vetos gegen den Einstieg chinesischer Investoren bei Elmos Semiconductor. Das schützt strategische Unternehmen, verteuert aber den Kapitalzugang und erschwert internationale Kooperationen.

Auch der Ausschluss von Hyperscalern aus lokalen Märkten – wie es die Türkei zurzeit faktisch praktiziert – wäre eine Form von Protektionismus. Das stärkt die heimische Industrie, führt aber kurzfristig zu höheren Kosten, weniger Auswahl für die Kunden, geringerem Innovationsdruck und weniger Skaleneffekten.

Der ökonomische Trade-off lautet konkret: mehr Selbstbestimmung, dafür höhere Cloudkosten für deutsche Unternehmen und Verbraucher, weniger ausländisches Kapital für lokale Firmen, geringere technologische Leistungsfähigkeit für alle und insgesamt ein teureres digitales Ökosystem.

Gregor: Welche Optionen siehst du für investive und fiskalische Förderung?

Roland: Hier geht es im Kern um Kapitalallokation – also darum, wie der Staat gezielt Investitionen in strategische Technologien lenken kann. Naheliegend sind Subventionen und steuerliche Anreize, etwa für Forschung, Rechenzentren oder die Chipfertigung, wie beim inzwischen abgesagten Intel-Werk in Magdeburg oder den neuen TSMC-Standorten in Dresden.

„Der Staat hat bei eigenen Digitalinvestitionen nicht immer ein gutes Händchen“

Allerdings zeigt die Erfahrung, dass der Staat bei solchen Investitionen nicht immer ein gutes Händchen hat. Projekte wie Gaia-X oder das IPCEI sind politisch stark aufgeladen, aber ökonomisch schlecht umgesetzt. Den Beteiligten fehlen insbesondere Kapital und Kompetenz, um sich von den Digital-Akteuren nicht übervorteilen zu lassen. Auch in anderen Bereichen, etwa bei der Förderung von Wasserstofftechnologien oder der Solarindustrie der 2000er Jahre, hat man gesehen, wie schnell staatliche Anschubfinanzierungen versanden, wenn es nicht gelingt, sie dauerhaft profitabel zu gestalten.

Ökonomisch bedeutet das: staatliche Investitionen müssen finanziert werden – durch höhere Steuern oder neue Kredite mit. Gleichzeitig ist die Trefferquote solcher Investitionen gering: Schon private Venture-Kapitalgeber landen nur bei etwa einem von zehn Projekten einen echten Erfolg – bei staatlichen Akteuren, die langsamer, politischer und risikoscheuer agieren, liegt die Quote erfahrungsgemäß darunter. Das Ergebnis sind hohe Kosten bei unklarer Rendite und gebundenes Kapital in Projekten.

Gregor: Welche staatlichen Interventions-Optionen siehst du bei der Nachfrage- und Beschaffungspolitik?

Roland: In der Nachfrage- und Beschaffungspolitik liegt ein großer, aber auch riskanter Hebel. Öffentliche Verwaltungen und KRITIS-Unternehmen könnten durch gezielte Beschaffungspolitik einen europäischen Markt überhaupt erst in Bewegung setzen. Das Problem ist nur: Laut aktuellen Umfragen basieren heute 60 bis 80 Prozent unseres Tech Stacks auf nicht-europäischen, proprietären Komponenten.

„Würden wir unseren Stack ernsthaft europäisieren, wären wir 10 Jahre nur mit Infrastrukturprojekten beschäftigt.“

Würde der Staat nun beschließen, diesen Stack flächendeckend zu europäisieren, käme auf alle beteiligen Branchen eine gewaltige Migrationswelle zu: Router, Speicher, Netzwerke, Virtualisierung, Load Balancer, Firewalls, Datenbanken, Rechenzentren, Cloud-Plattformen, Office-Software, Kollaborationstools, E-Mail-Systeme, Identitäts- und Zugriffssysteme – und vieles mehr. Das würde zwar einen Binnenmarkt für europäische Anbieter schaffen, ökonomisch wäre es aber möglicherweise ineffizient. Verwaltung, IT-Dienstleister und Beraterökosysteme wären die nächsten 10 Jahre damit beschäftigt, bestehende Systeme umzubauen, statt neue digitale Services zu entwickeln.

Die Opportunitätskosten wären entsprechend hoch: Für ein bis zwei Jahrzehnte würde sich die öffentliche Hand auf Infrastrukturmigration konzentrieren – während die tatsächliche Verbesserung digitaler Bürgerdienste kaum vorankäme. Denn beides benötigt ja auf die gleichen, knappen IT-ExpertInnen.

Hinzu kommt ein strukturelles Risiko: Die Verwaltung neigt dazu, Leistungen nach eigenem Augenmaß zu konfigurieren. Damit droht eine starke Fragmentierung, wenn Gemeinden, Länder, Bund und EU ihre eigenen Lösungen ausschreiben. Das Ergebnis wären hohe Integrationskosten, fehlende Skaleneffekte und Produkte, die am Markt kaum wettbewerbsfähig sind.

Gregor: Welche Optionen für strategische Gegenzüge haben wir bei der regulatorischen Gestaltung?

Roland: In der regulatorischen Gestaltung liegt vermutlich der subtilste, aber wirkungsvollste Hebel. Europa ist in der Regulierungsweltmeister. Bislang regulieren wir oft aus ethischen oder sozialpolitischen Motiven, etwa beim AI Act oder bei der Lebensmittelkennzeichnung. Andere Regierungen machen es vor, wie Regulierung als strategisches Industrieinstrument eingesetzt werden kann.

„Wir könnten beginnen, asymmetrisch zu regulieren.“

China etwa hat auf diese Weise seinen Aufstieg organisiert. Die ersten Sonderwirtschaftszonen – etwa in Shenzhen oder Xiamen – dienten als kontrollierte Experimentierräume, in denen Kapital, Handel und Technologiezufluss gezielt erlaubt wurden. Über den Joint-Venture-Zwang in der Automobilindustrie lernte das Land, wie man Autos baut (z. B. Volkswagen–SAIC seit 1984), und durch die Zwangsoffenlegung von IP bei Hochtechnologien – etwa beim Transrapid-Projekt in Shanghai – eignete es sich weiteres Know-how an. Kurz: Regulierung mit dem Ziel, Lernerfolge zu ermöglichen.

Wir könnten, in einer Art „Reverse China“, auch in Europa Sonderwirtschaftszonen und Regulatory Sandboxes erlauben. Dort könnten neue Technologien schneller erprobt und zugelassen werden, etwa durch weniger Datenschutz, günstigere Energiepreise oder besseren Zugang zu Wagnis-Kapital.

Eine weitere Idee hast Du mit Gerald Boyne diskutiert: Statt US-Clouds pauschal auszuschließen, könnten Anbieter verpflichtet werden, ihren Quellcode, Sicherheitsmechanismen und Schlüsselverwaltungsprozesse in Europa zu hinterlegen – etwa über ein modernes Escrow-Modell.

Und schließlich könnte Europa gezielt asymmetrische Regulierung einsetzen – also eigene Anbieter entlasten, während außereuropäische Player höhere Nachweispflichten erfüllen müssen. Sie könnten etwa verpflichtet werden, regelmäßig ihre Code-Basis auf Kill-Switches von unabhängigen Dritten untersuchen zu lassen. Das würde sie selbst verlangsamen, und gleichzeitig ihr Incentive erhöhen, auf Open-Source umzustellen und nebenbei auch noch zum Know-how-Transfer beitragen.

Ökonomisch wäre das ein vergleichsweise günstiger Spielzug – weniger über Geld, mehr über Bevorzugung für EU-Unternehmen, mehr Kosten für Non-EU-Player, aktiven Wissenstransfer und besseren Kapitalzugang. Zudem könnte man die Schrauben schrittweise anziehen und damit abrupte Preisschocks vermeiden.

Gregor: Wie sieht es mit strategischer Koordination und aktiver technologie-ökonomischer Governance aus?

Roland: Das ist wahrscheinlich der blinde Fleck Europas. Uns fehlt eine Instanz, die Industriepolitik, Technologieentwicklung und ökonomische Steuerung strategisch zusammenführt. In den USA übernehmen diese Rolle informell Akteure wie das Department of Commerce, die DARPA oder das National Economic Council – dort wird Technologiepolitik als Teil der nationalen Sicherheits- und Wirtschaftspolitik verstanden. In China existiert mit der National Development and Reform Commission (NDRC) eine zentrale Planungsbehörde, die industriepolitische Prioritäten direkt mit Finanz- und Forschungsförderung verknüpft.

„Wir müssen unsere Technologiepolitik strategisch orchestrieren.“

Europa dagegen ist zersplittert: Wir haben nationale Digitalstrategien, EU-Rahmenprogramme und unzählige Agenturen. Ein solcher Ultra-Föderalismus kann in Zeiten moderner Technologie-Wertschöpfungsketten seine Vorteile nicht ausspielen. Wenn wir aber unsere europäischen Regeln, Fähigkeiten und Mittel zentral koordinieren, dann könnten wir mit technologischer Weitsicht, smarten politischen Rahmenbedingungen und ökonomisch klugen Entscheidungen ähnliche globale mächtige Nischen besetzen, wie es Taiwan mit seiner spezialisierten Halbleiterindustrie gelungen ist.

Gregor:  Wie sieht es aus mit der Arbeits- und Wissenspolitik? Welche Stellschrauben gibt es da?

Roland: Technologische Souveränität beginnt in unseren Köpfen. Wir müssen sie wollen, und wir müssen Technologien verstehen, weiterentwickeln und anwenden können.

Das beginnt bei einer modernen Bildungspolitik, die Programmieren, Datenverständnis und Systemdenken nicht als Spezialdisziplin, sondern als Grundkompetenz vermittelt. Es geht weiter über Fachkräfteprogramme, die gezielt Talente aus Wissenschaft und Industrie nach Europa holen – so wie es die USA jahrzehntelang mit ihrem H-1B-Visumssystem getan haben – und nun sträflich vernachlässigen.

„Technologische Souveränität müssen wir wirklich wollen.“

Genauso wichtig ist die Fähigkeit, Wissen zu transferieren. Das kann über Kooperationen zwischen Hochschulen und Industrie, aber auch über Technologieakquisition geschehen – also den gezielten Einkauf von Know-how, etwa durch Beteiligungen, Lizenzen oder Übernahmen. So, wie China in den 2000er-Jahren über Joint Ventures und IP-Transfers systematisch Wissen aufgebaut hat.

Gregor: Jetzt noch eine abschließende Frage. Wenn du die europäische Technologiepolitik bestimmen würdest, wie würdest du intervenieren?

Roland: Als wichtigsten kurzfristigen Hebel erachte ich die strategische Umdeutung der Regulierung – weg von moralisch-defensiven Ansätzen hin zu smartem Protektionismus. Das heißt: klare Spielräume für europäische Anbieter, schnellere Zulassungsverfahren, Sandboxes, offene Datenräume – und asymmetrische Regeln für außereuropäische Akteure, die vom europäischen Markt profitieren wollen.

Daneben sollten wir klare wirtschaftliche Prioritäten setzen. Europa kann nicht überall Weltmarktführer sein. Realistischer und spieltheoretisch fast genauso wirksam wäre die Fokussierung auf etwas, das ich "Strategic Leverage" nennen. Wenn wir einige wenige strategische Knotenpunkte der globalen Digital-Wertschöpfung kontrollieren, dann würde digitale Souveränität entstehen, die nicht auf Abschottung basiert, sondern auf Kompetenz, Effizienz und eigener Gestaltungskraft.

Gregor: Vielen Dank für Deine Zeit!


Takeaways für den Analytischen Rahmen der Kostenabschätzung für den EuroStack

Dieses Interview steht im Kontext unserer Initiative zur Kalkulation der Kosten zum Aufbau eines europäischen Tech Stacks. Folgende Erkenntnisse nehmen wir hieraus mit für die kommende Analyse der Aufwände je Wertschöpfungsketten-Element des Tech Stacks.

Erkenntnis / HebelFragen je Element des Tech Stacks*
1. Protektionismus schützt Märkt, erhöht aber kurzfristig die Kosten für die Nutzer.Welche Marktanteile ausländischer Anbieter dominieren das jeweilige Element? Welche Kosten- und Preiserhöhungen wären durch Zölle, Ausschlüsse oder Auflagen zu erwarten?
2. Investive und fiskalische Förderung lenkt Kapital, birgt aber hohe FehlallokationsrisikenWelche Förderprogramme oder Subventionen betreffen dieses Element? Wie hoch ist der Kapitalbedarf und wie groß das Risiko von Fehlinvestitionen?
3. Nachfrage- und Beschaffungspolitik kann Märkte schaffen – oder lähmenWelche bestehenden Systeme müssten ersetzt oder migriert werden, um europäische Anbieter zu fördern? Welche Opportunitätskosten entstünden (z. B. verlorene Innovationszeit)?
4. Regulatorische Gestaltung als IndustrieinstrumentWelche regulatorischen Hürden oder Spielräume bestehen für das jeweilige Element? Wo könnte „smarter Protektionismus“ Wettbewerbsfähigkeit erzeugen?
5. Infrastruktur- und Industriestrategie als Voraussetzung digitaler SouveränitätWelche infrastrukturellen Lücken treiben aktuell die Kosten in diesem Element? Welche langfristigen Investitionen wären nötig, um Abhängigkeiten zu reduzieren?
6. Strategische Koordination und Governance als EffizienzfaktorWelche Institutionen steuern aktuell dieses Element, und wo entstehen Koordinationskosten? Welche Governance-Modelle wären erfolgreicher?
7. Arbeits- und Wissenspolitik als strukturelle KostenbasisWie gut funktioniert die aktuelle Arbeits- und Wissenspolitik? Welche zusätzlichen Interventionen sollte es geben und was würden sie wo kosten?

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