Der „Digital Sovereignty Summit“, organisiert rund um den Staatsbesuch von Emmanuel Macron, hat etwas markiert, das man selten erlebt: einen Stimmungswechsel. Nach Jahren von Panels über Offenheit, Nachhaltigkeit und gemeinsame europäische Werte war der Fokus diesmal ein deutlich anderer. Die Konversation drehte sich nicht mehr um Ethik und Grundsätze, es ging um Industriepolitik, Skalierung und Wirtschaftsmacht.
Dieser Wandel ist bemerkenswert – und überfällig.
Europa ist eigentlich hoffnungslos abhängig
Europa diskutiert seit Jahren über digitale Souveränität. Aber die Praxis bleibt unverändert:
- Konsumenten nutzen im Wesentlichen US-Apps (verfügbar, einfach, meist kostenlos).
- Kleine und mittlere Unternehmen setzen überwiegend auf US-Tech (mit einer EDV-Abteilung von 1,5 Mitarbeitenden bleibt kaum eine Alternative)
- Großunternehmen hätten eigentlich Kraft und Kompetenz, auf EU-Tech und Open Source zu setzen, tun es aber nicht (sie sind zufrieden mit US-Tech und haben größere Abhängigkeiten in Richtung China und USA).
- Für die Politik ist das Thema zu komplex (hat mit Computern zu tun), und andere Themen scheinen dringlicher (e.g. linksextreme Verfassungsrichter verhindern)
- Die Open-Source-Community ist zwar laut und kompetent, findet aber für wirkliche Skalierung nicht genug Geld.
- EU-Tech-Unternehmen profitieren absolut von geopolitischen Spannungen, wachsen aber dennoch langsamer als Big Tech (verlieren also relativ sogar Marktanteile).
In dieser Gemengelage wirkten viele Veranstaltungen zu digitaler Souveränität eher wie Ethik-Vorlesungen, die wirtschaftlich-technologischen Kern des Themas vorbei gingen. Der heutige Summit hat diese Logik erstmals sichtbar aufgebrochen.
Der neue Vibe: Geld, Startups, Skalierung, Entbürokratisierung
Karsten Wildberger, Roland Lescure, Friedich Merz und Emmanuel Macron setzten einen klaren industriellen Ton: Startups, Finanzierung, Innovation, Wettbewerb, Produktivität und Entbürokratisierung. Keine Ausflüchte in grundsätzliche Themen.
Dazu die vier Prioritäten von Roland Lescure:
- Finanzierung mobilisieren: Europas gigantische Ersparnisse fließen in die USA. Das Kapital muss in europäische Technologieunternehmen kanalisiert werden. Eine gemeinsame europäische Finanzarchitektur soll das ermöglichen.
- European First Procurement: Öffentliche Verwaltungen verfügen über 2,2 Billionen Euro an jährlichen Ausgaben. Dieses Geld soll europäischen Tech-Anbietern zugutekommen – nicht als Protektionismus, sondern als strategische Notwendigkeit.
- Klares Souveränitäts-Framework: Neue Zertifikations-Schemata wie das Cloud Sovereignty Framework sollen für mehr Souveränität in der Beschaffung ohne ausländische Anbieter ausschließen.
- Durchsetzung bestehender Regeln: DMA und DSA existieren, aber nun sollen sie auch angewendet werden
Henna Virkunnen ergänzte: Die Debatte sei nicht mehr nur eine Frage von Regulierungen, sondern von Investitionen. Europa besitzt rund 30 Billionen Euro an privaten Haushaltsersparnissen. Wenn ein Bruchteil davon in Technologie fließt, wird dies die Position Europas in der Welt maßgeblich verändern.
„Digitale Souveränität kostet Geld – aber Abhängigkeit kostet noch viel mehr.“
Timotheus Höttges erinnerte mit eindringlichen Slides daran: Alles ist ein geopolitisches Druckmittel, alles kann zur Waffe werden. Und Europa muss lernen, mit den gleichen Instrumenten zu spielen wie die USA und China.
Friedrich Merz formulierte es später noch pointierter: „Digitale Souveränität kostet Geld – aber Abhängigkeit kostet noch viel mehr.“
Ein bisschen wirkte es, als hätten beide die letzten Beiträge auf diesem Blog gelesen – denn genau darum ging es in den Interviews mit Prof. Dr. Roland Frank:
- Von Ricardo zum Gefangenendilemma: Handelstheorie mit der Leitidee internationaler Zusammenarbeit funktioniert nicht mehr. Europa muss spieltheoretisch denken, akzeptieren, dass sich die anderen Akteure unkooperativ verhalten und das wettbewerbliche Spiel einsteigen.
- Vom Counter-Trump zu Reverse-China: Die USA und China investieren massiv, um ihre digitale Machtposition abzusichern. Will Europa in diesem Umfeld an Souveränität gewinnen, muss es ebenfalls investieren und die entsprechenden Kosten akzeptieren.
„Sometimes we put tariffs on ourselves”
Europa ist der größte Sparmarkt der Welt – das betonten gleich mehrere Sprecher. Die Idee einer europäischen „Savings & Investments Union“ tauchte immer wieder auf. Genau hier entsteht mein vorsichtiger Optimismus: Wenn Europa auch nur einige Prozent seiner Kapitalbasis in digitale Infrastruktur, Deep Tech, KI und Cloud investiert, könnte das ein neues Jahrzehnt europäischer Technologiefähigkeit einleiten.
Macron formulierte es selbstkritisch: „Sometimes we put tariffs on ourselves.“
Treffender kann man es kaum sagen: Wir unterwerfen uns einem selbst auferlegten Strafzoll, indem wir Billionen in Sparbüchern und Riesterrenten parken, statt diese in die Grundlage unserer zukünftigen Prosperität zu investieren. Wir haben damit einen „Strafzoll auf finanziellen Analphabetismus“ erfunden.
In den 2030er nun könnte es etwas werden
Wenn die Politik diesmal dranbleibt, wenn die besseren Rahmenbedingungen tatsächlich umgesetzt und nicht nur angekündigt werden, dann könnte Europa in den 2030ern echte digitale Selbstbestimmung erreichen.
Nicht, weil die Herausforderungen geringer werden – sondern weil Europa dann das Kapital hat, technologie-basierte Angebote global zu skalieren. Die ethischen Debatten bleiben wichtig, aber sie gewinnen erst dann Bedeutung, wenn wir die technologische Basis besitzen, ihre Umsetzung auch zu beeinflussen.





