Die EuroStack-Initiative von Francesca Bria beschreibt die ambitionierte Vision eines europäischen Technologie-Ökosystems. Jedoch lässt sie offen, welche konkreten Unternehmen Europa dafür aufbauen müsste und welche Investitionen dafür realistisch erforderlich wären. Mit unserer Analyse „Was kostet der EuroStack?“ gehen wir erste Schritte, die finanziellen Dimensionen dieses Vorhabens einzugrenzen.
Bevor jedoch die Kosten eines vollständigen EuroStacks bestimmt werden können, stellt sich eine grundlegendere Frage: Welche unternehmerischen Akteure braucht Europa überhaupt, um einen solchen digital souveränen EuroStack zu stellen? Nicht jede Ebene des Tech-Stacks ist gleich kritisch. Nicht jede Abhängigkeit ist geopolitisch relevant, nicht jede Technologie rechtfertigt Milliardeninvestitionen. Entscheidend ist, jene wenigen Choke Points (‚Drosselstellen“) zu identifizieren, an denen ein global erfolgreicher europäischer Akteur den größten Hebel auf Souveränität hätte.
Grundannahme: Ein europäischer Global Player pro kritischer Abhängigkeit
Der Ausgangspunkt unserer Analyse ist ein einfaches Gedankenexperiment: Wäre die Google Cloud (mit ihrem Marktanteil von etwa 12%) ein europäischer Hyperscaler, dann wären mögliche Boykotte von AWS oder Azure nicht länger ein strategisches Risiko, sondern eine unternehmerische Chance.
Diese Überlegung zeigt, was ein global erfolgreicher, europäischer Anbieter bewirken würde. In sämtlichen relevanten Risikoszenarien – von Datenschutz über Sanktionen bis hin zu geopolitischen Konflikten – hätte Europa plötzlich Handlungsspielraum. Der Fluss von Metadaten in die USA könnte besser gesteuert werden, gezielte politische Sanktionen könnten durch einen Wechsel auf europäische Dienste schnell abgefedert werden.
Natürlich wäre damit keine perfekte Autarkie erreicht. Extraterritoriale Gesetze, komplexe Lieferketten und globale Cyberrisiken blieben bestehen. Doch die Abhängigkeit verschöbe sich systematisch – weg von vollständiger Verwundbarkeit hin zu verhandelbaren, kontrollierbaren Risikopositionen.
Daraus folgt unsere Basisannahme für den EuroStack: Digitale Souveränität entsteht, wenn Europa in allen kritischen Choke Points des Tech-Stacks mindestens einen wirtschaftlich erfolgreichen, global agierenden Akteur besitzt.
Klassische Ebenen-Modelle wie jenes von acatech sind zu akademisch
Wissenschaftliche Modelle wie jene der acatech (8 Ebenen der digitalen Souveränität) ordnen das Thema in klar abgegrenzte Layer ein. Diese Struktur ist analytisch hilfreich, bildet jedoch die Realität der globalen Tech-Ökonomie nur unzureichend ab. Große Technologiekonzerne operieren nicht entlang horizontaler Layer, sondern konstruieren vertikal integrierte Geschäftslogiken. Im EuroStack-Dokument der Bertelsmann-Stiftung ist dies in Annex A unter „Strategies of Dominance“ sehr treffend beschrieben: Google entwickelt Chips, betreibt eine Cloud, kontrolliert Workplace-Produkte und liefert eigene Endgeräte. AWS verbindet Infrastruktur, Software-Ökosysteme und E-Commerce. Nvidia vereint Halbleiter, Softwarestacks und KI-Plattformen.
Abhängigkeiten entstehen daher nicht innerhalb einzelner Ebenen, sondern an jenen Drosselstellen, an denen Wertschöpfung, Kontrolle und Datenflüsse zusammenlaufen.
Der Fokus auf die Schaffung erfolgreicher, wirtschaftlicher Akteure bringt für die Erlangung praktischer Souveränität weitere Vorteile:
| Stichwort | Beschreibung |
| Investitionskraft: Nur wirtschaftlich starke Einheiten können langfristig investieren | Große Tech-Unternehmen finanzieren massive Investitionen aus profitablen Geschäftsmodellen der aktuellen Technologiegeneration. Dauerhafte Investitionsfähigkeit über viele Technologiezyklen ist Voraussetzung für globale Wettbewerbsfähigkeit. |
| Nutzung statt Theorie: Digitale Leistungen müssen real genutzt werden, um im Krisenfall zu helfen | Alternativen zu US-Unternehmen reduzieren Abhängigkeiten nur, wenn sie in Unternehmen und Behörden tatsächlich eingesetzt werden. Die meisten Non-Profit-Initiativen (e.g. GaiaX) bleiben dauerhaft im Konzeptstadium und helfen daher nur theoretisch. |
| Resilienz-Management: Erfolgreiche Unternehmen managen Abhängigkeiten aktiv | Profitable Groß-Unternehmen haben ausreichend Budgets, um wesentliche Teile ihrer Wertschöpfungskette selbst zu kontrollieren und auf diese Weise Supply-Chain- und Cyber-Risiken aus eigenem Geschäftsinteresse heraus zu sichern. |
| Politische Macht: Wirtschaftliche Einheiten sichern sich Unterstützung durch Lobbying | Starke Branchen (wie z.B. die Autoindustrie in Deutschland) beeinflussen die lokale Regulierung, sichern Förderlogiken und schaffen langfristige politische Stabilität. Im europäischen Tech-Bereich fehlen solche Strukturen weitgehend. |
Für Europa bedeutet das: Die entscheidende Frage lautet nicht, welche Schichten wir technologisch europäisieren müssten, sondern welche wirtschaftlich erfolgfreichen Unternehmen wir in welchen Choke-Points etablieren müssen.
Die zentralen Choke-Points, die Europa besetzen muss
Um zu entscheiden, welche Positionen im globalen Tech-Ökosystem Europa selbst besetzen muss, nutzen wir ein dreiteiliges Kriterienmodell:
| Kriterium | Frage | Beispiele |
| 1. Demand-Side-Risk | Wie stark wäre Europa betroffen, wenn der Zugang abrupt wegfällt? | Abschaltung des iOS-Betriebssystems auf allen iPhones. |
| 2. Supply-Side-Risk | Wie verletzlich sind die globalen Lieferketten? | Die Nicht-Verfügbarkeit von Chips in der Corona-Krise führte zu Produktionsausfällen in der Autoindustrie |
| 3. Unmittelbarkeit von Sanktionen | Wie schnell wirkt das Risiko bei Eintritt? | Eine Abschaltung von iOS wirkt sofort Ein Boykott von seltenen Erden kann durch Lagerhaltung mitigiert werden. |
Daraus abgeleitet ergeben sich die folgenden Drosselstellen für Europa:
| Choke-Point | Warum kritisch? | Risk-Level (Demand / Supply / Unmittelbarkeit) | Ziel-Akteur für Europa |
| Hyperscaler-Infrastruktur (Cloud + B2B-Identities) | Stillstand in Stunden; vertikal integrierter Zugangspunkt für Compute, Storage, Identity und APIs | Sehr hoch / Mittel / Sofort | Aufbau eines global skalierenden europäischen Cloud-Players mit eigener Identity-Schicht |
| Mobile Betriebssysteme & App-Distribution (iOS/Android) | Kontrolle über App-Rollout, Updates und Sicherheit; Sperren wirken unmittelbar | Hoch / Niedrig / Sofort | Strategische Distributionshoheit oder europäischer Kontrollpunkt in der Geräte-/OS-Kette |
| B2C Identitäten & Workspace-Ökosysteme | Kontrolle über Authentifizierung und Gerätemanagement; hohe Systemrelevanz | Hoch / Niedrig / Tage | Europäische Identity- und Kollaborationsplattformen mit realer Marktadoption |
| Halbleiterfertigung (Foundries + Lithografie) | Nicht ersetzbar; Ausfall lähmt Industrie nach kurzer Zeit | Mittel / Sehr hoch / Wochen | Aufbau eines geopolitisch sicheren Fertigungspfads + Chipdesign-Ökosystem |
| Seltene Erden & Raffinierieketten | China dominiert Raffinerien; Engpässe wirken verzögert, aber massiv | Niedrig / Hoch / Monate | Europäische Raffineriekapazitäten + strategische Vorräte |
| KI-Compute & Foundation Models | API-Zugangsrisiken; Abhängigkeit von proprietären Pipelines | Mittel / Mittel / Tage | Europäische Compute-Kapazitäten + eigene Modellfamilien |
Diese Choke-Points markieren jene Stellen im Tech-Ökosystem, an denen Europa im Ernstfall am verwundbarsten wäre – und an denen eigene, global erfolgreiche Anbieter den größten Souveränitätsgewinn erzielen würden.
Der erste Choke Point - Cloud Hyperscaler
Unsere Analyse „Was kostet der EuroStack“ beginnt mit dem kritischsten Stelle: Public Cloud Hyperscaler.
Dafür führen wir zunächst bis zu sechs strukturierte Einzelinterviews mit ausgewiesenen ExpertInnen aus Technologie, Wirtschaft und Geopolitik. Jedes Gespräch folgt einem einheitlichen Schema, damit die Ergebnisse vergleichbar bleiben und ein konsistentes Bild ergeben.
Alle Interviews werden wir transparent veröffentlichen, um die Debatte offen, nachvollziehbar und überprüfbar zu halten. Auf Basis dieser Gespräche entwickeln wir anschließend eine erste Ballpark-Abschätzung zu zwei zentralen Fragen:
- Was wäre eine realistische und smarte Strategie, um einen global wettbewerbsfähigen europäischen Cloud-Player aufzubauen?
- Und was würde ein solcher Aufbau – über mehrere Technologiezyklen hinweg – kosten?
Mit diesen Ergebnissen konkretisieren wir das Vorhaben EuroStack und liefern Politik und Wirtschaft erstmals eine Grundlage, um über Prioritäten, Investitionen und industriepolitische Weichenstellungen fundiert entscheiden zu können.
In eigener Sache
Mit dem Wechsel von Ansgar Baums in seine neue Rolle als General Manager bei Microsoft und den damit verbundenen potenziellen Interessenkonflikten wird er die Initiative verlassen. Die inhaltliche Leitung übernimmt Gregor Schumacher; die wissenschaftliche und methodische Verantwortung wird bei Prof. Dr. Roland Frank liegen.






