Digitale Souveränität? Europa hat die Wahl – und scheint entschieden. Wir möchten Komfort statt Kontrolle. Regulierung statt Gestaltung. Für Ordnung statt Wagemut. Die Abhängigkeit von US-Technologien ist kein Betriebsunfall. Sie ist das Ergebnis unserer gesellschaftlichen Wünsche und Bedenken. Hier meine Analyse in 8 Thesen.
1: Unsouveränität entsteht in neuen Technologiewellen
Wer digitale Unabhängigkeit anstrebt, muss zuerst verstehen, wie digitale Abhängigkeiten überhaupt entstehen. Das zugrunde liegende Muster ist seit vielen Technologiegenerationen dasselbe: Ein Unternehmen entwickelt eine neue Technologie und investiert massiv in deren Verbreitung. Die Technologie löst reale Geschäftsprobleme besser als bisherige Lösungen. KonsumentInnen und Unternehmen steigen um – und profitieren davon.
So haben sich AWS, Google Cloud und Microsoft Azure in die IT-Infrastrukturen von Organisationen weltweit manövriert. Ebenso verlief es mit Microsoft Windows, Apple iOS, Google Search, VMware, den Mobilfunkstandards bis 5G, Oracle-Datenbanken, Adobe Photoshop, WhatsApp, Facebook – und selbst mit VHS-Videokassetten.
Wer die Standards einer Technologie-Generation definiert, erlangt eine besondere Machtposition. Denn Alternativen sind zwar technisch möglich, bringen aber spürbare Nachteile mit sich. Wer WhatsApp nicht nutzen will, muss seine Kindergartengruppe vom Wechsel zu Signal überzeugen. Wer Oracle ablösen möchte, muss seine mit der Datenbank verknüpfte Geschäftslogik aufwendig migrieren. Wer das VHS-Format nicht akzeptiert, muss sein Video-2000-Gerät selbst warten und rare Kassetten auf dem Flohmarkt suchen.
Weil Alternativen meist teurer, aufwendiger oder unbequemer sind, setzen sich dominante Standards durch. Und genau diese Dominanz erzeugt Macht. Die Macht der einen aber ist die Abhängigkeit der anderen. Wir Europäer sind heute deshalb so stark von US-Technologien abhängig, weil wir den anderen die Entwicklung und Verbreitung fast aller digitalen Schlüsseltechnologien überlassen haben.
2: Abhängigkeit ist eine Entscheidung
Für den Begriff „digitale Souveränität“ existieren zahlreiche Definitionen. Wer den öffentlichen Diskurs verfolgt, erkennt jedoch schnell: Im Kern stehen sich zwei Fraktionen gegenüber. Die eine strebt die vollständige Auflösung aller digitalen Abhängigkeiten an (Autarkie). Die andere setzt auf Handlungsfähigkeit in absehbaren Zukunftsszenarien – trotz bestehender Abhängigkeiten.
Wer Kapitel 1 aufmerksam gelesen hat, erkennt: Streng genommen ist niemand wirklich abhängig. Es geht immer nur um die Frage, ob wir bereit sind, den zusätzlichen Aufwand für Alternativen in Kauf zu nehmen. Jeder Akteur kann sich entscheiden – für Open-Source-Datenbanken, für eine eigene Cloud, für die Eigenproduktion von Chips oder das Recycling seltener Erden. Europa könnte all das leisten.
Genauso wie sich Eltern in der Kita entscheiden können, ihre Gruppe von WhatsApp zu Signal bekehren, könnte Deutschland entscheiden, seltene Erden aus Elektroschrott zurückzugewinnen und technologische Abhängigkeiten an einer Stelle nach der anderen abzubauen.
Doch wir haben uns dagegen entschieden. Während andere Länder in Technologien investierten, hielten wir an der schwarzen Null fest. Wir wollten lieber, dass Menschen mit 63 Jahren in Rente gehen können. Wir kämpften für reduzierte Mehrwertsteuer auf Hotelübernachtungen und Restaurantbesuche. Uns sind Pendler mit Pauschalen und Dienstwagen mit Privilegien wichtig.
3: Europa räumt alte Abhängigkeiten ab – und geht neue ein
Donald Trump betritt erneut die politische Bühne – und plötzlich wird spürbar, wie viel Macht mit technologischer Führerschaft einhergeht. Bisher nutzten US-Technologiekonzerne diese Macht vor allem für Preiserhöhungen und pfiffige Business-Strategien. Doch nun scheint mehr denkbar: das Abschalten von Cloud-Diensten, Kill-Switches in Software, gezielte Backdoors. Die digitale Souveränitäts-Bubble auf LinkedIn schnattert wie ein aufgescheuchter Gänseschwarm, selbst die Politik reagiert – ein wenig:
- Investitionen in Halbleiterproduktion, meist durch globale Unternehmen auf europäischem Boden
- Förderung von KI-Rechenzentren, aber voraussichtlich mit US-Taiwanesischen Chips
- Unterstützung von Open-Source-Initiativen, häufig in nicht-kommerziellen Konstrukten wie Gaia-X oder 8ra
- Stärkung europäischer Werte, vor allem durch umfangreiche Regulierung
Der politische Fokus liegt also auf dem Abbau bestehender Abhängigkeiten in etablierten Technologien – durch Regulierung, Open Source und lokale Wertschöpfung.
Gleichzeitig rennen KonsumentInnen, kleine Unternehmen und Konzerne in die nächste Welle der Abhängigkeiten: künstliche Intelligenz.
Denn die allermeisten NutzerInnen interessieren die geopolitische Dimensionen ihrer App-Wahl schlicht nicht. Kleine Unternehmen haben weder die Ressourcen noch das Personal für große Open-Source-Teams. Und Konzerne? Die könnten es sich leisten – sind aber ohnehin von Amerika abhängig: Viele erzielen ihre Umsätze in den USA oder sind im Besitz US-amerikanischer Private-Equity-Fonds. Wieso sollten ausgerechnet diese sich von US-Abhängigkeiten lösen?
4: Trump wird die Cloud nicht abstellen
Während Europas Politik versucht, alte technologische Abhängigkeiten abzubauen, schaffen Unternehmen und KonsumentInnen gleichzeitig neue – vor allem im Bereich künstlicher Intelligenz. Das Ergebnis ist ein dynamisches Gleichgewicht mit in Summe stabiler Unsouveränität.
Wie riskant ist diese Situation? Risiko bemisst sich nach zwei Faktoren: Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit. Die potenzielle Schadenshöhe für Europa ist enorm – von massiven wirtschaftlichen Folgen bis hin zur wirtschaftlichen Handlungsunfähigkeit. Die Eintrittswahrscheinlichkeit wiederum hängt maßgeblich vom politischen Willen des US-Präsidenten ab.
Die bisherigen Handels- und Zoll-Debatten haben das Muster Trumps offengelegt: Es geht ihm um den „Deal“. Er droht, schaut auf die Reaktion – und verhandelt. Sein Korrektiv ist die Börse: Fallen die Kurse, rudert er zurück.
Trump könnte also durchaus damit drohen, uns den Zugang zu kritischen US-Technologien zu entziehen. Doch was wäre die Folge? Ein dramatischer Kurseinbruch an den Märkten – denn US-Unternehmen sind massiv in Europa engagiert. Würde er die Drohung wahr machen, entstünde eine globale Wirtschaftskrise ungekannten Ausmaßes. Und was hätte er davon? Einen Golfplatz auf den Champs-Élysées?
Trump wird uns den Zugang zu US-Technologien nicht großflächig abschalten. Nicht, weil er es nicht könnte – sondern weil es ihm schlicht nichts bringt.
5: Quanten-Technologie oder Kernfusion würde uns handlungsfähig machen
Was Trump aber sehr wohl tun kann – und mit hoher Wahrscheinlichkeit tun wird – ist: mit technologischer Macht spielen. Mal wird ein Satellitendienst für Raketen abgeschaltet, mal der internationale Strafgerichtshof schikaniert, mal europäische Datenschutzregeln ignoriert. Und Europa? Reagiert mit empörter Rhetorik, vielleicht mit einer angedrohten Digitalsteuer oder dem Verweis auf internationale Verträge.
Stellen wir uns einmal eine andere Lage vor: Christian Klein, CEO von SAP, steht auf der Bühne der nächsten Hausmesse. Er präsentiert den ersten praxistauglichen Quantencomputer – groß wie ein Kühlschrank, produziert in Walldorf, serienreif. Die Welt steht Schlange, bezahlt Millionen pro Gerät. Die Hochleistungsvariante steht tief unter der Erde in einem Bunker in der Eifel – und bricht auch quantensichere Verschlüsselung binnen Sekunden.
Nun kommt Trump wieder mit einer seiner Drohungen – Zölle, Sanktionen, Kill-Switches. Und Europa? Schweigt. Ein paar Tage später taucht in der Presse ein kleines, für Laien unverständliches, aber für das Pentagon sehr unangenehmes Detail auf. Die Botschaft wäre klar: Das war der Quantencomputer aus der Eifel. Mit Europa ist nicht zu spaßen.
VMware, Windows, iOS, ChatGPT, Google – all diese Abhängigkeiten würden weiterhin bestehen. Aber Europa müsste nicht mehr bitten, appellieren oder hoffen. Wir wären handlungsfähig. Das wäre digitale Souveränität, verstanden nicht als Autarkie, sondern als strategische Gegengewalt: Gestaltungsmacht durch technologische Leistungsfähigkeit.
6: Europa findet Schumpeter doof
Europa hat viele große Denker hervorgebracht – und Joseph Schumpeter war einer dieser. 1883 geboren, beschrieb er als Erster das Prinzip der „schöpferischen Zerstörung“, das den Kapitalismus so dynamisch und erfolgreich macht. Innovationen, so Schumpeter, schaffen Fortschritt – aber sie verdrängen das Alte. Produkte verschwinden, Geschäftsmodelle brechen weg, Unternehmen sterben, Mitarbeitende müssen neue Jobs suchen.
Zentraler Akteur in diesem Prozess ist nicht der Staat und nicht das Volk, es ist der Unternehmer – derjenige, der Neues wagt, Risiken eingeht und Umsetzungskraft besitzt.
Wer Schumpeter liest, erkennt sofort: Elon Musk, Bill Gates, Jeff Bezos, Marc Benioff – das sind seine Schüler. Wen man dort eher nicht sieht? Olaf Scholz, Hans Eichel oder Christian Klein. Auch nicht die Vorsitzenden von Gewerkschaften, Finanzcontroller, juristische Bedenkenträger, Compliance Officer oder Verbraucherschützer.
Natürlich: All diese Rollen sind wichtig. Sie schützen Rechte, sorgen für Fairness und schaffen Ordnung. Aber Ordnung allein reicht nicht aus, wenn man im globalen Technologiewettbewerb bestehen will. Wer mithalten will, muss nicht nur regeln, sondern auch innovieren. Und dafür braucht es Technologie – eigene, leistungsfähige, begehrte. Europa müsste Technologien entwickeln, die so stark und attraktiv sind, dass die Welt sie nutzen will – auch wenn sie sich vor der daraus entstehenden Macht fürchtet.
Wir wollen Ordnung statt Wandel, Denkmalpflege statt Innovation, Sicherheit statt Möglichkeit.
7: Dem Kontinent bleibt die Empörung
Europa hat sich für digitale Unsouveränität entschieden. Nicht aus Mangel an Optionen – sondern aus politischem Willen.
Wir könnten digital autark sein: mit einem EuroStack, Open-Source-Software, eigener Chipproduktion und Rechenzentren. Wir könnten globale Schlüsseltechnologien wie KI, Batterien, Halbleiter, 7G, Quantencomputing oder Kernfusion nicht nur erforschen, sondern global zur Anwendung bringen – erst subventioniert exportieren und dann absahnen.
Aber das würde viel kosten. Wir müssten mehr Schulden machen. Oder unseren Lebensstil verändern. Und wir müssten bereit sein, Milliarden in die Hände von Menschen zu legen, denen wir nicht blind vertrauen: reiche Unternehmer wie Dommermuth, Schwarz oder Hopp. Oder junge Gründer wie Andrulis und Mensch, deren Kompetenz erst noch bewiesen werden muss.
Wenn sie scheiterten, gäbe es große Debatten. Wenn sie Erfolg hätten auch. Europa will diesen Weg nicht. Die Zeit des unternehmerischen Aufbruchs liegt hinter uns. Was bleibt, ist die Empörung. Wir richten uns ein in einer Rolle der Reaktion: mit Appellen an internationales Recht, mit normativer Rhetorik, mit nachträglicher Regulierung – während andere die Regeln neu schreiben.
Das Thema „digitale Souveränität“ ist damit erledigt – im Guten wie im Schlechten. Im Guten, weil ein vollständiger Digitalboykott weder realistisch noch im Interesse des US-Präsidenten liegt. Im Schlechten, weil wir offenkundig nicht bereit sind, die unbequemen Bedingungen echter Handlungsfähigkeit zu akzeptieren.
8: Uns Individuen steht die Welt offen
Für Einzelne hingegen war die Lage selten so vielversprechend. Wer Lust hat, die immer schneller rollenden Technologiewellen zu reiten, findet global offene Türen und Märkte.
Man kann, wie Thomas Dohmke (Deutschland, CEO von GitHub), Werner Vogels (Niederlande, CTO von AWS), Jean-Philippe Courtois (Frankreich, Head of Sales bei Microsoft) oder Luca Maestri (Italien, CFO bei Apple), die eigene Schaffenskraft einfach in den Dienst amerikanischer Technologiekonzerne stellen.
Oder man nutzt US-Kapital, um selbst zu gründen – wie die Collison-Brüder (Stripe, Irland), Demis Hassabis (DeepMind, UK) oder Tobias Lütke (Shopify, ursprünglich aus Koblenz). Dafür muss man heute nicht einmal mehr auswandern. Erfolgreiche Startups wie Celonis, Parloa oder Contentful zeigen: Das US-Kapital kommt auch zu uns.
Europa mag mit Schumpeter hadern – aber wir Individuen müssen das nicht.
Wir können gestalten. Wir können alte Strukturen überwinden. Wir können Neues schaffen.