Europas langer Weg zur Finanzsouveränität

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06.10.2025
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8 min Lesedauer
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Alexander Scheibel ist Director Product Management bei Riverty und verantwortet dort die strategische Weiterentwicklung von Payment-Lösungen im europäischen Markt. Seit über einem Jahrzehnt arbeitet er an der Schnittstelle von Technologie, Regulierung und Kundenerlebnis – mit dem Ziel, Bezahlen im digitalen Handel sicherer, transparenter und nutzerfreundlicher zu gestalten. In seiner Rolle verbindet er Produktinnovation mit einem tiefen Verständnis für Finanzprozesse und regulatorische Anforderungen im Fintech-Umfeld.

Gregor: Wie unabhängig ist die Finanz-Infrastruktur Europas von globalen Einflüssen?

Alexander: Ganz ehrlich: Wir sind extrem abhängig – strukturell und technisch. Fast alle internationalen Transaktionen laufen über SWIFT, das zwar in Belgien sitzt, aber stark von den USA beeinflusst wird. Hinzu kommt der US-Dollar als Leitwährung: Ein Großteil der Zahlungen wird in Dollar konvertiert, ob wir wollen oder nicht. Auf der Verbraucherseite prägen Visa, Mastercard und PayPal den Alltag – alles US-Unternehmen. Europa hat mit SEPA zwar eigene Schienen, aber im globalen Maßstab spielen die keine Rolle. Die Abhängigkeit ist also tief verankert.

„Europa ist im Finanzsystem strukturell von den USA abhängig.“

Gregor: Gregor: Im Bereich IT-Infrastruktur wird oft diskutiert, dass die USA Europa im Ernstfall den Zugang zu Public-Cloud-Diensten wie AWS oder Microsoft Azure sperren könnten. Lässt sich ein ähnliches Szenario auch für das globale Finanzsystem vorstellen – also dass die USA gezielt Finanz-Dienstleistungen kappen, um politischen Druck auf Europa auszuüben?

Alexander: Ja, und das wäre technisch sogar ziemlich einfach. Über die US-Behörde OFAC – das Office of Foreign Assets Control – kann die Regierung per Dekret Banken oder Zahlungsdienste blockieren. Donald Trump hat gezeigt, wie schnell so etwas gehen kann: ein Federstrich, und die Infrastruktur ist abgeklemmt. Und das nicht einmal unbedingt mit einem offenen geopolitischen Argument – vorgeschoben werden könnten auch Vorwürfe wie Geldwäsche oder Terrorfinanzierung. Genau so hat man Russland teilweise vom System abgekoppelt, indem einige Banken aus SWIFT ausgeschlossen wurden. Ein gesamthafter Ausschluss gilt in der Geopolitik inzwischen fast als die „digitale Atombombe“: hochwirksam, ohne einen Schuss abzufeuern. Würde dieses Instrument gegen Europa eingesetzt, träfe es uns sofort, weil praktisch jede Transaktion irgendwo den Dollar, SWIFT oder US-Kartenanbieter berührt.

Gregor: Wie groß wäre der Schaden, wenn die USA wirklich den Finanz-Stecker zögen?

Alexander: Gigantisch. Schon wenn Visa oder Mastercard in Europa nicht mehr funktionieren würden, käme der Zahlungsverkehr über Nacht zum Erliegen – Hotels, Airlines, Autovermieter, überall würde nichts mehr gehen. Natürlich könnten wir noch Rechnungen stellen oder Überweisungen über SEPA laufen lassen, aber das dauert Tage und passt nicht zu den heutigen Geschäftsprozessen. Der Effekt wäre unmittelbar spürbar: Lieferketten würden reißen, E-Commerce stünde still, Konsumenten könnten im Supermarkt nicht bezahlen. Kurz gesagt: Europa wäre in einer Schockstarre. Erst danach könnten wir anfangen, Alternativen hochzuziehen – aber bis dahin hätten wir massiven wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schaden.

„Der Ausschluss aus SWIFT ist zur ‘digitalen Atombombe‘ geworden.“

Gregor: Bei der klassischen IT-Infrastruktur werden in der Regel drei Lösungsoptionen vorgeschlagen: Open Source, Multi-Cloud und europäische Alternativen. Wie sieht es denn in Europa aus mit echten Alternativen zu US-Finanz-Dienstleistungen?

Alexander: Leider ist das Bild ernüchternd. Es gibt zwar einzelne europäische Player – etwa in der Zahlungsabwicklung oder beim Karten­geschäft – aber sie haben weder die Größe noch die globale Reichweite, um echte Alternativen zu den US-Giganten zu sein. Systeme wie SEPA funktionieren nur innerhalb Europas, für den internationalen Handel braucht es aber Netzwerke mit weltweiter Akzeptanz. Visa, Mastercard oder die großen US-Banken dominieren diesen Bereich fast vollständig. Selbst wenn europäische Initiativen wie die European Payments Initiative starten, kämpfen sie mit Netzwerkeffekten: Händler und Banken schließen sich nur an, wenn das System schon groß genug ist. Und genau diesen Kreislauf zu durchbrechen, ist extrem schwer.

Gregor: Neben den großen US-Playern gibt es auch europäische Anbieter wie Adyen, Klarna oder Worldline. Wo stehen die heute im internationalen Wettbewerb?

Alexander: Europa hat durchaus starke Player. Adyen zum Beispiel prozessiert Zahlungen für globale Konzerne wie Uber oder Facebook. Klarna ist längst international aktiv – sogar mit Super-Bowl-Werbung in den USA. Und Anbieter wie Worldline oder Mollie zeigen, dass technologische Kompetenz da ist. Das Problem: Der Markt konsolidiert sich weiter brutal. Um profitabel zu sein, brauchst du gigantische Transaktionsvolumina. Visa, Mastercard oder PayPal spielen in einer anderen Liga – allein durch ihre Reichweite und Netzwerkeffekte. Europäische Firmen sind also stark, aber im globalen Maßstab noch keine echte Alternative.

Gregor: Viele Händler nutzen Plattformen wie Shopify oder WooCommerce, die Zahlungsarten quasi voreinstellen. Wie prägt das den Markt – und gibt es hier überhaupt Platz für europäische Alternativen?

„Europäische Initiativen scheitern oft an Netzwerkeffekten.“

Alexander Scheibel: Plattformen sind echte Gatekeeper. Wer heute einen Online-Shop startet, bekommt PayPal, Visa oder Mastercard meist direkt als Standard eingebaut. Das prägt das Konsumverhalten enorm. Shopify geht noch weiter und hat mit Shop Pay ein eigenes Bezahlsystem tief integriert – super schnell, extrem komfortabel, fast unsichtbar. Für Händler ist das praktisch, für Konsumenten bequem. Aber genau das macht es europäischen Alternativen schwer: Sie sind nicht in denselben Plattformen verankert und bekommen dadurch gar nicht erst die Chance, in die Breite zu wachsen.

Gregor: Welche Rolle spielt denn Open-Source in der Finanzbranche?

Alexander: Unterstützend, aber nicht als Gamechanger. Open Source kann bei Software und Standards helfen, klar. Aber in der Finanzbranche geht es nicht primär um Code, sondern um Betrieb und Vertrauen. Am Ende zählt, wer die Infrastruktur betreibt, wer Transaktionen abwickelt und welche Regeln gelten. Das kannst du nicht allein mit offenem Quellcode lösen. Open Source ist also ein Baustein – aber nicht die Antwort auf die strukturelle Abhängigkeit, die wir gegenüber den großen US-Anbietern haben.

Gregor: Ok, also Open Source hilft nicht und europäische Alternativen gibt es nicht mit der notwendigen Reichweite. Gibt es denn Länder, die einigermaßen autonome Finanzinfrastrukturen betreiben?

Alexander: Ja, die gibt es. Russland hat nach den Sanktionen rund um den Ukraine-Krieg eigene Systeme aufgebaut – etwa SPFS als Ersatz für SWIFT und die Kartenmarke Mir. Damit läuft der inländische Zahlungsverkehr stabil, auch wenn die internationale Akzeptanz begrenzt bleibt. Indien wiederum hat mit dem Unified Payments Interface (UPI) ein hochskalierbares, staatlich getragenes System geschaffen, das heute Milliarden Transaktionen abwickelt. Und China hat mit UnionPay sowie Diensten wie Alipay und WeChat Pay Netzwerke etabliert, die längst bis nach Europa reichen. Autark ist aber keiner dieser Staaten – auch dort führt im Welthandel kaum ein Weg am Dollar vorbei. Was man aber sieht: Mit politischem Willen und Investitionen lassen sich Strukturen schaffen, die deutlich mehr Eigenständigkeit ermöglichen.

Gregor: Hm … politischer Wille und massive Investitionen. Siehst du denn Initiativen in Europa, die erfolgversprechend sind?

Alexander: Erste Ansätze gibt es, ja. Mit der European Payments Initiative und dem Dienst Wero versuchen Banken eine europäische Alternative zu PayPal oder den großen Kartenanbietern aufzubauen. Auch der digitale Euro und einzelne Blockchain-Projekte der EZB gehen in diese Richtung. Aber ehrlich gesagt: Das Ganze ist langsam, fragmentiert und oft zu klein gedacht. Jeder Mitgliedstaat hat eigene Interessen, der Markt ist stark reguliert, und viele Banken setzen lieber auf die etablierten US-Systeme. Damit so etwas wirklich trägt, braucht es ein Projekt mit dem Stellenwert von Airbus in der Luftfahrt – groß, europäisch gedacht und mit echtem politischem Rückhalt. Nur dann schaffen wir es, aus den Pilotprojekten eine souveräne Infrastruktur zu machen.

„Unsere Regulierung bremst europäische Anbieter – während US-Player häufig verschont bleiben.“

Gregor: Europa ist bekannt für strenge Regulierung, von DSGVO bis hin zur neuen Konsumentenkredit-Richtlinie. Fördert das Vertrauen – oder hemmt es Innovation im Zahlungsverkehr?

Alexander Scheibel: Beides. Regulierung schafft Vertrauen – das ist wichtig, denn Geld ist immer auch Vertrauenssache. Aber sie kann Innovation massiv bremsen. Ein Beispiel ist die SEPA-Lastschrift: Rückabwicklungen und Datenschutzregeln haben sie so komplex gemacht, dass viele Händler sie nicht mehr ohne zusätzliche Sicherheitsmechanismen anbieten. Oder die neue Konsumentenkredit-Richtlinie: Sie soll Überkonsum verhindern, nimmt aber ausgerechnet Kreditkartenanbieter aus – während europäische Rechnungs- und Ratenlösungen stärker reguliert werden. Das wirkt paradox: Wir regulieren die Player, auf die wir Zugriff haben, während die großen internationalen Anbieter außen vor bleiben.

Gregor: Technisch sehen wir spannende Entwicklungen: Instant Payments, SoftPOS, mobiles Bezahlen. Welche Chancen bieten solche Innovationen für mehr europäische Souveränität?

Alexander: Da steckt enormes Potenzial. Instant Payments sind ein Gamechanger, weil Überweisungen in Sekunden ankommen, statt in Tagen – damit wertet sich SEPA deutlich auf. Mit SoftPOS kann jedes Smartphone zum Kartenlesegerät werden, was gerade kleinen Händlern neue Möglichkeiten eröffnet. Und mobiles Bezahlen per NFC oder App ist ohnehin längst Alltag. Europa könnte all das nutzen, um eigene Standards und Ökosysteme zu schaffen. Aber: Wenn wir diese Technologien nicht politisch priorisieren, laufen wir Gefahr, dass am Ende wieder nur US- oder asiatische Anbieter die Wertschöpfung kontrollieren.

Übrigens ist die globale Verbreitung von Bezahlstandards ein echter Bedarf bei Konsumenten. SEPA etwa gilt nur in den teilnehmenden europäischen Ländern, Paypal aber funktioniert global: in Australien am Strand und in Argentinien im Café.

„Europa braucht einen Airbus der Finanzinfrastruktur.“

Gregor: Hast du Ideen, wie wir unsere Finanzinfrastruktur emanzipieren könnten?

Alexander: Ja – aber das geht nur mit einem echten europäischen Kraftakt. Zuerst müssen wir überhaupt anerkennen, dass Finanzsouveränität ein strategisches Ziel ist. Dann braucht es Investitionen in die bestehende Infrastruktur: SEPA modernisieren, Instant Payments konsequent ausrollen, den digitalen Euro nicht nur diskutieren, sondern in der Praxis etablieren. Parallel sollten wir europäische Player wie Adyen, Klarna oder Wero großflächig fördern, damit sie Netzwerkeffekte entwickeln können. Wichtig ist, dass wir ein System schaffen, das Konsumenten, Händler und Banken gleichermaßen nutzen – nur so durchbrechen wir die Dominanz der US-Anbieter. Am Ende ginge es darum, ein „Airbus der Finanzinfrastruktur“ aufzubauen: ein gemeinsames europäisches Projekt, das Vertrauen schafft, skaliert und uns weltweit wettbewerbsfähig macht.

Gregor: Vielen Dank für Deine Zeit!

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